Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
nicht so. Wie ich früher sagte: Wir müssen die strengsten Maßstäbe anlegen und uns umfassend vergewissern, daß jemand wirklich sterben will. Der selbständige, echte, nicht manipulierte Wille ist das Kriterium. Und wir könnten die Überprüfung durch ein unabhängiges Gremium verlangen, das zwielichtige Motive ausschließen kann. Diese Überprüfung wäre der neue Damm.
ZWEITER ARZT: Der Dammbruch, von dem der Kollege spricht, ist weniger ein gedanklicher Dammbruch als ein Dammbruch des Mißbrauchs .
WINTER: Wie gesagt: Wir hätten die Mittel, jeden Fall eines Mißbrauchs als solchen zu identifizieren und zu verfolgen. Und die Möglichkeit eines Mißbrauchs ist nie ein Grund, ein Gesetz nicht zu machen, das in seiner richtigen Anwendung segensreich ist. Sehen Sie: Ihre Überlegung würde doch bedeuten, daß Sie zu mir sagen: »Sie tun uns in Ihrem Unglück ehrlich leid. Aber wir können Ihrem Wunsch nicht entsprechen, denn dazu müßten wir durch ein Gesetz ermächtigt werden, und dieses Gesetz können wir nicht machen, weil es ja mißbraucht werden könnte.« Stellen Sie sich vor, Sie wären in meiner Lage, und stellen Sie es sich bitte genau vor: Würden Sie nicht auch kochen vor Wut?
ERSTER ARZT: »Euthanasie« und »Holocaust« hat neulich jemand gemurmelt, als auf der Station von diesen Dingen die Rede war.
WINTER: Das ist dummes, unwürdiges, verantwortungsloses Geschwätz. Ein Zeichen gedanklicher Verwahrlosung. Wer das faschistische Vernichtungsprogramm nicht vom Respekt vor einem selbstbestimmten Willen unterscheiden kann, gehört nicht an eine Klinik.
ZWEITER ARZT: Solchen Entgleisungen brauchen wir in der Tat keine Beachtung zu schenken. Aber neulich sagte jemand zu mir: »Es wäre ein bewußtes, absichtliches Töten. Wäre es dann nicht Mord ?« Und auch Richter reden manchmal so, wenn sie einem ohnmächtigen Patienten das Recht aufs Sterben durch fremde Hand streitig machen.
WINTER: Solchen Leuten müßte man ein Wörterbuch in die Hand drücken. Mord – das ist das Töten von jemandem gegen seinen Willen und aus niedrigen Beweggründen. Beides ist hier nicht gegeben. Auch hier gilt, was ich zu Beginn sagte: Leute lassen sich leicht von den Wörtern wegschwemmen und vergessen darüber das Denken.
ERSTER ARZT: Gut, ich will versuchen, so weit zu gehen, wie ich kann. Was ich dabei erreichen kann, ist: Ich verstehe Ihren Wunsch, daß wir Sie töten. Oder, wie Sie lieber sagen: daß wir Ihrem Leben ein Ende setzen. Und ich räume ein: Wer diesen Wunsch überhaupt nicht versteht, dem mangelt es an Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen. Und noch einen weiteren Schritt bin ich bereit zu tun: Ich verstehe, wenn jemand es täte, weil er Ihre Qual nicht länger mit ansehen kann. Und weil er, anders als ich, keine religiösen Bedenken hat. Den letzten Schritt jedoch könnte ich niemals tun: Ihnen das Gift selbst zu spritzen. Ich denke, ich könnte es auch dann nicht, wenn mir der religiöse Glaube abhanden käme. Ich könnte es einfach nicht.
WINTER: Angesichts meiner Qual fällt es mir schwer, das zu sagen, aber ich sage es: Das kann ich akzeptieren. Einen solchen Widerstand des Gefühls zu überwinden – das kann man von niemandem verlangen. Aber ich frage mich, wie stimmig dieser Widerstand ist. Sie zögern doch auch sonst nicht, jemanden von einem Leiden zu erlösen. Das ist Aufgabe des Arztes.
ERSTER ARZT: Aber doch nur innerhalb eines Lebens!
WINTER: Warum eigentlich? Wenn das Weiterleben das Leiden ist !
ZWEITER ARZT: Auch ich erschrecke beim Gedanken, Ihnen die Spritze zu geben, die alles beendet. Könnte ich mit dieser Episode leben?
WINTER: Stellen Sie sich vor, Sie legen mir eine Infusion, die aber noch durch das Umlegen eines Hebels in Gang gesetzt werden muß. Was Sie tun, ist erlaubt, vorausgesetzt, daß am Ende ich es bin, der den Hebel umlegt. Aber ich kann es nicht! Ich kann es nicht! Ich brauche dazu Ihre Hand. Können Sie es nicht so sehen: Sie leihen mir Ihre Hand, als Instrument gewissermaßen, damit ich meinen Willen vollenden kann?
ERSTER ARZT: Ich verstehe, was Sie meinen. Aber das ist Ihre Perspektive auf meine Hand. Es kann niemals meine sein. Aus meiner Perspektive ist das genauso eine Handlung wie jede andere auch. Und mit dieser Handlung – nein, damit könnte ich nicht leben.
WINTER: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen stundenlang hier an meinem Bett. Ich bitte. Ich bettle. Sie spüren auch sonst, wie alles in mir sehnlichst danach verlangt, daß dieser eine kleine Hebel
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