Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
einfach überginge, was er sich gewünscht hat und alles in den Müll würfe, bedeutete das das Ende dieser Einstellung. Und es wäre kein Ende, das zustande kommt, weil der Tote tot ist. Der Tod der Achtung wäre eine Veränderung der Einstellung, die mit uns zu tun hätte, und sie beschädigte die frühere Einstellung. Man kann auch sagen: Da der Tod des anderen kein Grund für die Änderung der Einstellung sein kann, muß dieser Grund in uns liegen, und dieser Grund zeigt, daß die Einstellung gar nicht fraglos und fest war, vielleicht sogar eine Täuschung, eine Lüge.
Eine überdauernde Achtung kann nicht bedeuten, daß man nichts verändert und tut, als sei die Person noch am Tisch und im Haus. Dann würden die Dinge, die nicht angerührt werden dürfen, zum Fetisch. Aber Dinge, die zu schaffen das Leben dieses Menschen ausgemacht haben, werden wir nicht vernichten. Und auch sonst werden wir nicht Beliebiges mit ihnen machen, auch nicht, wenn es unser Vorteil wäre. Es gibt Autoren, die es nicht über sich brachten, Texte zu vernichten, die zugleich aber nicht wollten, daß sie veröffentlicht würden. Viele möchten sie trotzdem lesen, und für diejenigen, die sie drucken, kann viel Geld auf dem Spiel stehen. »Es sind große Werke von öffentlichem Interesse«, wird man sagen. Doch es geht gegen den Willen des Toten. Gegen seine Würde als einer, der selbständig über sein Leben bestimmen wollte, besonders in den wichtigsten Dingen: seinen Worten, seinen Dramen und allem, was sich darin von ihm zeigte.
Auch andere Dinge tut man nicht: Man gibt bestimmte Geheimnisse des Toten auch jetzt nicht preis, und man macht mit seinem Geld nicht Beliebiges. Man kann es sich so vorstellen: Man muß vor ihn hintreten und es vor ihm rechtfertigen können, was immer es sei. Doch was geschieht, wenn man weiß, daß er diese Rechtfertigung nicht verstünde und nicht annehmen könnte? Und man selbst ist vollkommen sicher, daß es trotzdem richtig ist, weil es zum Beispiel Leid verringert? Was geschieht dann mit seiner Würde, sofern sie von uns anderen abhängt?
Und wenn sein Tod eine Befreiung war? Wenn man froh wäre, all den Krempel wegwerfen zu können? Wo ist dann der Unterschied zwischen würdeloser Vernichtung und einer Befreiung, die seine Würde trotzdem noch wahrt? Reicht es, daß die Dinge nicht in den Müll kommen, sondern in die Hände von jemandem, der mit ihnen etwas anfangen kann?
Unsere Würde dem Toten gegenüber besteht in der Achtung vor seinem Willen und der Art, wie er sich in die Logik seines Lebens einfügte. Man kann ihm diesen Respekt vor den Augen der anderen zollen – dann ist es nicht eigentlich Respekt gegenüber dem Toten, sondern gegenüber den Erwartungen der anderen, was die Demonstration dieses Respekts betrifft. Oder man respektiert den Willen des Toten im stillen, allein mit ihm. Die Achtung, die man ihm entgegenbringt, ist ganz anders als jede sonstige Achtung, zu deren Natur es gehört, daß sie wahrgenommen werden soll: Es ist eine Achtung, die außer einem selbst niemand bemerkt. Man könnte denken, daß es die eigentliche Achtung ist, weil sie sich selbst genügt.
Literaturhinweise
Fremdsprachige Literatur zitiere ich in der Regel aus den gängigen Übersetzungen. Wo nach meiner Meinung eine andere Formulierung treffender ist, habe ich selbst übersetzt.
Einleitung
Menschenwürde als unzerstörbares Anrecht auf Achtung, das im Glauben an Gott verankert ist: Ein Beispiel für diese Sichtweise ist das Buch von Wilfried Härle, Würde – Groß vom Menschen denken , München: Diederichs 2010. Härle schreibt: »Was sich aber ganz allgemein sagen lässt und auch von Kritikern des Gottesglaubens und der Menschenwürde nicht bestritten wird, ist, dass es wohl keine umfassendere, tragfähigere und überzeugendere Begründung für die Menschenwürde gibt als den Glauben an Gott als den Schöpfer . Die Verbindung zwischen Gottesglauben und Menschenwürde ist so stark, dass beide einander stützen und begründen – oder dass mit dem einen auch leicht das andere verloren geht bzw. aus dem Leben entschwindet.« (79) Für den Ungläubigen bedeutet das: Er hat eine Würde, die er nicht so ganz verstehen kann.
1. Kapitel
Ein Selbstzweck sein : Dieser Gedanke als Erläuterung für die Idee der Würde findet sich prominent bei Immanuel Kant. Hier sind klassische Stellen: »Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst,
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