Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
mir zu sterben hilft. Wenn Sie diesem Willen nicht nachkommen, obwohl Sie es könnten: Das ist ein Verstoß gegen meine Würde.
ZWEITER ARZT: Sich hier auf ein göttliches Verbot zu berufen, hat in der Tat nichts mit unserer Rolle als Ärzte zu tun. Und auch ich verstehe diese Idee von Würde nicht. Was kann eine Würde sein, die sich nicht um den Willen einer Person schert und sich ihm so kompromißlos entgegenstellt wie in diesem Fall? Eine rücksichtslose Würde? Sie muß doch für Herrn Winter in seinem Gefängnis aus Lähmung und Dunkelheit wie Hohn klingen. Trotzdem, Herr Winter: Sie können von meinem Kollegen nicht erwarten, daß er gegen seine religiöse Überzeugung handelt. Das wiederum hat mit seiner Würde im Sinne der Stimmigkeit seiner Person zu tun.
WINTER: Das kann ich akzeptieren. Jedenfalls abstrakt betrachtet. Aber wir wollen festhalten: Er mißachtet damit meine Würde im Sinne der Selbstbestimmung. Er sagt zu mir: Ihre persönliche Würde gilt mir weniger als die göttliche Würde, an die ich glaube. Und das ist keine Kleinigkeit. Ich frage mich: Versteht der Mann, was er damit macht? Hat er sich jemals wirklich vorgestellt , wie das ist: sich nicht mehr bewegen können? Nie mehr? Und dazu noch blind sein, so daß ich mit der Welt nicht einmal mehr sehend und lesend in Verbindung treten kann? Ist ihm klar , was das für eine Hölle der Ohnmacht ist? Und ist ihm klar, was es für eine Grausamkeit bedeutet, wenn er zu mir sagt: Ihr Leid vermag mich nicht in Bewegung zu setzen, denn da ist dieses göttliche Verbot?
ERSTER ARZT: Ich bin durchaus in der Lage, meine religiöse Überzeugung einzuklammern. Ich würde trotzdem niemanden auf sein Verlangen hin töten. Denn wir können seinen Willen nie abschließend kennen. Ist er wirklich ganz bestimmt ? Ist er wirklich ganz klar im Sinne der unwiderruflichen Konsequenzen? Ist er echt ? Ist es wirklich sein Wille, frei von fremdem Einfluß? Ist er frei von Selbsttäuschungen?
WINTER: Wenn ich ein Gesetz zu machen hätte, würde ich mit größtem Nachdruck hineinschreiben: All das über einen längeren Zeitraum prüfen und nochmals prüfen! Und jeden vernünftigen Zweifel ernst nehmen. Aber wissen Sie: Irgendwann weiß man es. So, wie man es auch bei anderen lebensbestimmenden Entscheidungen weiß, die einer trifft. Wenn Sie jetzt zu mir sagten: »Herr Winter, ich höre, was Sie über Ihren Willen zu sterben sagen, ich höre es seit Tagen, seit Wochen, aber wie kann ich sicher sein, daß Sie Ihren Willen wirklich kennen und verstehen? Wie kann ich sicher sein, daß Sie nicht doch an Ihrem Leben in der Lähmung und Dunkelheit hängen?« Wenn ich Sie das sagen hörte, dann würde mich eine ohnmächtige Wut überschwemmen. Was für eine unglaubliche Arroganz, versteckt hinter einer scheinheiligen Fassade gedanklicher Sorgfalt!, würde ich denken. Als könnte ich mich über meinen eindeutigen, verzweifelten Willen täuschen!
ZWEITER ARZT: Aber könnte sich Ihr Wille zu sterben nicht doch noch ändern ? Wäre es nicht immerhin denkbar ?
WINTER: Jeder Wille kann sich, rein theoretisch gesehen, ändern. Daraus kann nicht folgen, daß wir ihn so, wie er ist, nicht als selbstbestimmten Willen respektieren. Denn sonst könnte es überhaupt keine Achtung vor der Selbstbestimmung eines Menschen geben und also keine Achtung vor seiner Würde.
ZWEITER ARZT: Gut. Aber es geht um Ihren letzten Willen!
WINTER: Daß es mein letzter ist und nach seiner Verwirklichung unwiderruflich, ändert nichts daran, daß er selbstbestimmt und zu respektieren ist. Es müßte sonst das absurde Prinzip gelten: Ein Wille, weil er der letzte in diesem Leben wäre, braucht nicht ernst genommen zu werden.
ERSTER ARZT: Ich sage Ihnen jetzt etwas, was für Sie zynisch klingen mag, weil es von Ihnen persönlich absieht, aber es ist im Sinne politischer Verantwortung gemeint: Wenn wir Tötung auf Verlangen gesetzlich erlaubten, würde ein Damm brechen. Wir müßten dann befürchten, daß Patienten, die jemandem im Weg sind oder deren Pflege zu teuer erscheint, unter dem Vorwand getötet würden, sie hätten es so gewollt.
WINTER: Von einem Dammbruch kann keine Rede sein. Die Metapher des brechenden Damms, so wie auch die andere Metapher der schiefen Ebene, müßten bedeuten: Wenn wir das eine zulassen, müssen wir auch das andere zulassen. Anders ausgedrückt: Wenn wir das eine zulassen, können wir keinen Grund mehr angeben, warum wir nicht auch das andere zulassen. Hier aber ist es überhaupt
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