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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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schläfrig ein, den Kopf so weit sinken, bis er in die Radspeichen geriet, und er hielt sich so lange auf seinem Sitz, bis das Genick durch die Umdrehung des Rades brach: Auf demselben Fahrzeug, das ihn zur Bestrafung brachte, floh er. Nichts steht im Wege auszubrechen und wegzugehen, wenn man es nur will.« Selbstmord, um einer unerträglichen Qual und Erniedrigung zuvorzukommen. Selbstmord also, um einen Verlust der Würde zu verhindern.
    Man kann Senecas Beispiel variieren: Winston bei Orwell, der sich in der Zelle erhängt, um der Folter und dem Verrat an Julia zu entgehen. Häftlinge in Konzentrationslagern, die sich in den elektrischen Zaun werfen. Angeklagte, die sich umbringen, um sich nicht in Schauprozessen als Handlanger des Kapitalismus bezichtigen zu müssen. Immer ist es Selbstmord als Schutz der Würde. Die Würde kann uns mehr wert sein als das Leben.
    Auch Willy Loman, der Handlungsreisende, setzt seinem Leben schließlich ein Ende. Nicht mit dem Schlauch im Keller, sondern mit dem Auto. Es ist ein Selbstmord aus Verzweiflung über Mißerfolg und zerplatzte Lebensträume. Das ist anders, als wenn sich einer auf dem Weg in die Folterkammer tötet. Ein Unterschied liegt darin, daß man versuchen könnte, Loman davon abzubringen. Ihm zu zeigen, daß der Schritt nicht unausweichlich ist. »Er hatte die falschen Träume«, sagt sein Sohn. Es waren die Träume vom Erfolg, vom großen Geld, und auch davon, beliebt zu sein. »Das ist ja das Wunder, das Wunder dieses Landes, daß einer es zu Diamanten bringen kann, weil er beliebt ist«, sagt er. Das verlogene Weltbild des Amerikanischen Traums war die unsichtbare Gefängniszelle, in der Loman lebte. »In diesem Haus haben wir nie auch nur zehn Minuten die Wahrheit gesagt«, sagt der Sohn. Linda, seine Frau, hätte versuchen können, die Zelle der Lebenslügen aufzuschließen, der Wahrhaftigkeit und ihrer Würde Geltung zu verschaffen und Loman zu Bewußtsein zu bringen, daß er auch ohne diese Lügen jemand ist – jemand mit einem Leben, das sich trotz des Mißerfolgs zu leben lohnt. »Er hat nie gewußt, wer er war«, sagt der Sohn am Grab. Wäre es anders gewesen – es hätte vielleicht nicht dazu kommen müssen.
    Aber vielleicht doch. Im dritten Kapitel sind wir einem Willy Loman begegnet, der zu Linda sagt: »Ich habe den Schlauch versteckt, weil ich mit meiner Verzweiflung allein sein wollte. Es gibt Dinge, die man ganz allein mit sich ausmachen muß.« Liegt nicht auch in dieser trotzigen Einsamkeit eine Art Würde? Loman fährt auch in den Tod, um Linda und den Söhnen das Geld aus der Lebensversicherung zukommen zu lassen. Sein letzter, sein einziger Erfolg. Bis zuletzt sind Geld und Erfolg der Maßstab. »So bin ich, so habe ich gelebt«, könnte er zu Linda sagen. »Und so beende ich jetzt mein Leben. Ich möchte nicht, daß du einen anderen aus mir zu machen versuchst. Gelingen würde es dir ohnehin nicht. Aber ich möchte auch nicht, daß du es versuchst.«
    Wie kann eine Begegnung mit einem aussehen, der das Ende plant? Wie können wir mit ihm sprechen und dabei sowohl seine Würde wahren als auch die unsere? Wir können ihn darin unterstützen, zu einem selbständigen Willen zu finden. Für seine Würde kommt es darauf an, daß dieser letzte, abschließende Wille sein ganz eigener Wille ist: nicht eingeredet, nicht nachgeplappert, nicht manipuliert. Es gibt Gruppenselbstmorde und Selbstmorde aus dunkler Weltanschauung, es gibt Selbstmord durch Erpressung, und es gibt Selbstmord durch Identifikation mit einem Helden, einem wirklichen oder fiktiven, der es auch getan und es vielleicht zu etwas Großem stilisiert hat. Unsere Würde in der Begegnung kann darin bestehen, den fraglichen Willen zu prüfen: zu erforschen, woher er kommt, was an fremden Einflüssen im Spiel ist und inwiefern er zum bisherigen Selbstverständnis der Person paßt. Wenn wir es richtig machen, gewinnt derjenige, dem das Leben unerträglich geworden ist, größere Klarheit, ohne sich von uns und unserem Engagement für sein Leben bedrängt oder erstickt zu fühlen. Unser Plädoyer für sein Leben und der Respekt vor seinem ganz eigenen Willen halten sich die Waage. Am Schluß wird er besser wissen, ob die Logik seines Lebens diesen letzten Schritt unausweichlich macht. Und er wird besser verstehen, warum auch die Beziehung zu denjenigen, die ihn halten möchten, am Ende nichts daran zu ändern vermag.
    Die Einsamkeit der Entscheidung wird um so größer, je mehr ihr ein

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