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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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umgelegt wird. Auch dann nicht?
ERSTER ARZT: Ich würde mir vorstellen, wie Sie nachher tot vor mir lägen, und ich müßte denken: Ich war es. Ich glaube, ich würde aus dem Zimmer gehen.
ZWEITER ARZT: Es wäre schwer für mich, mit einer Tötung weiterzuleben. Aber vielleicht könnte es mir gelingen, mir ganz Ihre Perspektive zu eigen zu machen und mir zu sagen: Es ist vor allem eine Erlösung. In einer Klinik, an der ich früher war, gab es einen älteren Patienten, der am ganzen Körper gelähmt war und außer den Augen nur noch einen Muskel am Kinn bewegen konnte. Er mußte künstlich beatmet und künstlich ernährt werden. Man installierte am Kinn einen Fühler, mit dem er Impulse an einen Computer senden konnte. Auf dem Bildschirm sah der Mann das Alphabet. Über die Buchstaben glitt langsam ein Lichtpunkt. Wenn der Punkt auf dem richtigen Buchstaben war, gab der Mann mit seinem Kinnmuskel das Signal, und der Buchstabe wurde ausgewählt. Der Bildschirm füllte sich mit Worten. Der Mann schrieb. Er schrieb ein Buch über die Geschichte des Gotthardpasses. Es dauerte viele Jahre. Als er fertig war, schrieb er: Ich mag nicht mehr. Kremieren. Wir hatten eine Abmachung: daß ich ihm, wenn ich diese Worte läse, helfen würde. In der folgenden Nacht starb er von selbst. Ich stand lange an seinem Bett. Ich war froh, daß ich es nicht hatte tun müssen. Aber ich glaube, ich wäre bereit gewesen.

Einem Toten gegenüber
     
    Wir kümmern uns auch um die Würde eines Toten. Er wird davon nie etwas erfahren. Trotzdem haben wir den Eindruck, daß es um ihn geht. Zwar geht es auch um uns: um die Art, wie wir diesem Toten und überhaupt einem Toten gegenüber empfinden. Doch wir spüren: Es gibt darüber hinaus auch etwas an ihm zu schützen. Was ist es?
    Der Tote ist nicht irgend ein Körper: Er war eine Person, der wir begegnen konnten, indem wir uns mit ihr im Denken und Fühlen verschränkten. Der Körper wird zerfallen und aufhören zu existieren. Deshalb dürfen wir ihn auch verbrennen. Aber es gibt vieles, was wir mit ihm nicht tun dürfen: ihn essen, ihn verkaufen, mit ihm spielen. Diese Verbote schreiben den Gedanken fort, daß der Tote einmal ein Subjekt war und damit ein Selbstzweck: ein Wesen, das man nicht nur benutzen und als bloßen Gegenstand behandeln darf.
    Auch vor zudringlichen Blicken, den Blicken sensationslüsterner Gaffer, schützen wir den Toten. Wir decken die Leiche des Unfallopfers zu. Es ist, als wollten wir sagen: So möchte er nicht gesehen werden. Es geht um Würde als Achtung vor Intimität – auch wenn es eine Intimität ist, die der Tote nicht mehr erlebt. Dazu gehört, daß seriöse Medien keine Bilder von entstellten Toten veröffentlichen, nicht einmal, wenn es grausame Despoten waren. Die Entstellung reduziert, was einmal eine Person war, auf Fleisch und Knochen, ein Arrangement von Materie. Es ist die grausame Auflösung der Person. Auch hier ist es, als sagten wir: Niemand möchte so gesehen werden. Und diesem Gedanken entspricht der Impuls, den Blick abzuwenden. Für diejenigen, die damit ein Geschäft machen, haben wir nur Verachtung übrig. Ohne es zu merken, verspielen sie ihre Würde.
    Manchmal werden Tote aufgebahrt. Dann aber ist es eine Situation, in der die anderen von ihnen Abschied nehmen und sie dazu noch einmal sehen möchten. Wir fänden es empörend, wenn jemand für sich ein Gaudi daraus machte. »Trotzdem: Ich möchte nicht ausgestellt werden«, höre ich Bernhard Winter sagen. »Ich möchte nicht, daß meine Hülle, die noch meine Züge trägt, aber bleich und eingefallen, den Blicken ausgesetzt wird. Blicken, denen ich, anders als nach dem Schlafen, nicht mehr begegnen kann. Auch möchte ich nicht, daß man meinen toten Körper herrichtet .« »Sie merken es doch nicht mehr.« »Aber ich möchte es jetzt nicht denken müssen.« Ein Kollege von Winter hatte sich beim Sterben filmen lassen. Zu Lehrzwecken. »Wie fremd mir das ist!«, hatte Winter gesagt. »Wie fremd mir der ganze Mann ist!«
    Wir achten die Würde eines Toten nicht nur dadurch, daß wir den Körper seiner früheren Person schützen. Wir achten sie auch dadurch, daß wir uns mit dem auseinandersetzen, was er hinterläßt. »Aber jetzt gibt es doch gar keine Beziehung mehr zu ihm, es gibt ihn ja nicht mehr.« Trotzdem sind die Empfindungen wichtig, die aus dieser Beziehung entstanden sind. Und sie überdauern. Zu ihnen gehört die Achtung vor den Dingen, die sein Leben ausgemacht haben. Wenn man

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