Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Bewußtsein von Schuld oder verlorener Würde zugrunde liegt. Wir hatten uns einen Loman vorgestellt, der seinen Freund an McCarthy verrät. Man kann sich vorstellen, daß er mit diesem Verrat nicht weiterleben kann. Die Schuld und der Verlust der moralischen Würde wiegen zu schwer. Wenn wir mit ihm sprächen, müßten wir etwas vermeiden, was sowohl seine als auch unsere Würde gefährdete: die Sache zu bagatellisieren. Es gilt, die Schwere der Verfehlung anzuerkennen. Er würde uns ins Gesicht springen, wenn wir ihn verleiten wollten, sich etwas vorzumachen. »Was das für mich bedeutet – das könnt ihr einfach nicht beurteilen !«, würde er sagen.
Wir hatten gesehen, daß auch Bernhard Winter diese letzte Einsamkeit für sich in Anspruch nimmt, wenn er findet: Bevor ich meine seelische Identität verliere, setze ich dem Leben ein Ende. Und so wäre es auch, wenn ihm etwas anderes zustieße: daß er vom Kopf abwärts vollständig gelähmt wäre und zudem das Augenlicht verloren hätte. In solcher Bewegungslosigkeit und Dunkelheit eingeschlossen zu sein, wäre für ihn die Hölle. Von dem Augenblick an, wo ihm seine Lage klar würde, hätte er nur noch diesen einen Willen, über den er nicht mit sich reden ließe: zu sterben. Doch er könnte nicht selbst Hand an sich legen. Er bräuchte eine fremde Hand. Er bräuchte sie als Mittel, um seinen Willen zu verwirklichen und seinem Leiden ein Ende zu setzen. Er möchte, daß jemand auf seinen Wunsch hin sein Leben beendet. Was er möchte, heißt in der Sprache des Rechts: Tötung auf Verlangen. In diesem Land darf das niemand. Doch es gibt Länder, wo diese Form der Hilfe erlaubt ist. Diejenigen, die es sicher und schmerzlos tun könnten, sind Ärzte. Wir können uns vorstellen, daß Winter mit zwei Ärzten spricht. Den einen vermag er zu überzeugen, den anderen nicht.
»Wir sollten im Willen zu verstehen unnachgiebig sein, denn schließlich geht es ums Ganze«, hatte Sarah im früheren Gespräch gesagt. Und so ist es auch hier: Es geht in dieser Frage nicht einfach darum, für etwas zu sein oder gegen etwas, Punkt. Es geht darum, möglichst genau zu verstehen, wie es uns in dieser Situation mit unseren Gedanken und Empfindungen gehen kann. Wir können es als eine verwirrende Situation erleben, und es geht darum auszuloten, worin die Verwirrung besteht. Wenn es am Ende dazu kommt, daß wir für oder gegen etwas sind, dann als zwangloses Ergebnis einer solchen Selbstvergewisserung. Es darf nicht zu einem Glaubenskrieg kommen, in dem sich die Gegner unlautere Motive unterstellen. Die Größe des Themas verlangt, daß wir ruhig und wach die gedanklichen Linien bestimmter Voraussetzungen ausziehen und den anderen dann fragen: Finden Sie es jetzt immer noch richtig?
ERSTER ARZT: Ich töte niemanden. Ich bringe niemanden um. Als Arzt ist es meine Aufgabe, Leben zu retten und zu bewahren, nicht zu vernichten.
WINTER: Wie bei anderen wichtigen Fragen müssen wir vor der Verführung durch Wörter auf der Hut sein. Wörter können Gefühle in Wallung bringen und Gedanken verdunkeln, indem sie Bilder und Assoziationen wachrufen, die nicht zur Sache gehören. Wir merken dann gar nicht, daß wir von den Wörtern und nicht von den Gedanken fortgetragen werden. So ist es hier. Töten , umbringen , Leben vernichten : Das sind Wörter, die eine Aura der Grausamkeit mit sich führen, denn sie gehören in den Umkreis von Verbrechen, Krieg und Lager. Wenn Sie solche Wörter benutzen, beschwören Sie diese Grausamkeit, zu der wir alle sagen: nein! Bei dem, worum ich Sie bitte, geht es indessen um keine Grausamkeit, die ja immer Leid schafft, sondern um das Gegenteil: um die Erlösung von Leid, die Beendigung einer Qual. Wir sollten deshalb besser ein neutrales Wort benutzen: einem Leben ein Ende setzen. Das ist es, was ich möchte: daß Sie meinem Leben ein Ende setzen.
ERSTER ARZT: Niemand darf einem menschlichen Leben ein Ende setzen. Das verstieße gegen seine Würde.
WINTER: Würde? Wovon sprechen Sie?
ERSTER ARZT: Die Würde eines Lebens besteht darin, daß es ein Geschenk Gottes ist. Deshalb können wir nicht darüber verfügen.
WINTER: Ich möchte nicht durch eine Vorstellung von Würde tyrannisiert werden, die mir fremd ist und die ich nicht einmal verstehe. Ich will Ihnen sagen, worin meine Würde besteht: in meinem selbständigen und selbstbestimmten Willen. Wenn Sie meine Würde respektieren wollen, dann müssen Sie meinen Willen respektieren, der lautet: Ich will, daß man
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