Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
fremden Blick verinnerlicht, beiträgt. So ist es bereits, wenn wir jemanden mit einem Makel beschämen, der keine Verfehlung bedeutet: Armut etwa, Obdachlosigkeit, Impotenz oder die Unfähigkeit zu lesen. Wer zahlen sollte und es nicht kann, oder lesen sollte und es nicht kann, erlebt sowohl den vernichtenden Blick auf den Makel als auch seine Unfähigkeit, ihn zu verbergen, als Ohnmacht. Und erst recht werden der Betrüger und der Verräter die doppelte Ohnmacht spüren, wenn ihre Verfehlung aufgedeckt wird: Sie verlieren auf einen Schlag die Macht der Tarnung und ihre Autorität in den Augen der anderen. Damit erfüllt ein Akt der Beschämung die Bedingungen einer Demütigung, wie wir sie bisher in diesem Buch verstanden haben: Wir demonstrieren dem Beschämten seine Ohnmacht, wir weiden uns daran und lassen ihn auch das noch spüren. Das ist der Grund, warum Beschämung eine so grausame Art der Strafe sein kann.
Was Linda ihrem Mann ersparen will, ist die Demütigung, die er spüren müßte, wenn sie ihm zeigte, was sie im Keller gefunden hat. Sie ist die letzte, die ihm seine Ohnmacht demonstrieren will, und noch ferner liegt es ihr, eine solche Demonstration vor seinen Augen zu genießen. Doch ihr Zögern hat auch noch einen anderen Grund: Loman müßte Lindas Entdeckung nicht nur als Entlarvung, sondern auch als Entgrenzung erleben. Es würde also nicht nur das eine Bedürfnis nach Intimität mißachtet, bei dem es um das Verbergen seines Makels geht, sondern auch das andere, bei dem es darum geht, die Grenzen seines inneren Bezirks gegen Übergriffe zu schützen. Denn was der Schlauch offenbart, ist etwas, was ganz im Zentrum seines seelischen Geschehens liegt: eine Verzweiflung über sein mißlungenes Leben. Wenn er den Schlauch versteckt, dann nicht nur, weil er diese Verzweiflung als einen Makel betrachtet, sondern auch, weil sie zu den tiefsten Gefühlen gehört, die nur ihn allein etwas angehen. Und nun müßte er erfahren, daß Linda davon weiß und daß sie ihm durch dieses Wissen näherkäme, als er es ertragen könnte. Auch das will Linda ihm nicht zumuten.
Was am Beispiel von Lomans Schlauch deutlich wird, zeigt, daß die Demütigung der Entlarvung auch noch in einem anderen Sinne eine Demütigung sein kann: indem sie seelische Grenzen einreißt. Es gibt den Makel ohne seelische Offenbarung: die Mißbildung, den körperlichen Verfall, die unglückliche Lebenslage, den wirtschaftlichen Bankrott. Doch vieles, was wir als Makel verstecken, verbergen wir auch deshalb, weil sich darin zeigt, wie wir tief innen sind: Der Verrat, die Lüge, die Denunziation und viele Grausamkeiten lassen erkennen, was uns letztlich antreibt. Dann stehen wir nicht nur in dem Sinne nackt vor den anderen, daß der Makel offenbar geworden ist, sondern auch in dem anderen Sinne, daß die fremden Blicke die Schranken der seelischen Abgrenzung ungehindert passieren können. Die Wucht der Scham ist am größten, wenn beides zusammenspielt. Die Erfahrung kann vernichtend sein. Wenn Linda den Schlauch jedesmal wieder zurücktut, dann deshalb, weil sie das weiß.
Würde als überwundene Scham
Würde, könnte man sagen, ist das Recht, nicht beschämt zu werden. Und das ist eine Variante des Gedankens, dem wir schon mehrfach begegnet sind: Würde kann man als das Recht verstehen, nicht gedemütigt zu werden. Das ist die Idee, von der sich Linda leiten läßt.
Doch vielleicht unterschätzt sie ihren Mann. Vielleicht ist er stärker, als sie annimmt. Vielleicht braucht er ihre Rücksicht gar nicht. Nehmen wir an, sie stellt ihn eines Tages doch zur Rede. Der Schlauch liegt auf dem Tisch. Loman errötet, er fühlt sich ertappt. Doch er fängt sich schnell, viel schneller, als Linda angenommen hatte. »Ich bin müde«, sagt er. »Es gibt Tage, da mag ich einfach nicht mehr. All die Haustüren, an die ich klopfe. All die Leute, die mich belächeln. Howard, für den ich ein Versager bin. An solchen Tagen ist der Schlauch ein Trost. Und weißt du was: Ich schäme mich nicht; ich stehe dazu . Ich habe den Schlauch versteckt, weil ich mit meiner Verzweiflung allein sein wollte. Es gibt Dinge, die man ganz allein mit sich ausmachen muß. Jetzt, wo du es weißt, sage ich dir: Es ist mir gleich, was die Nachbarn denken würden, oder Howard, oder die Jungs. Und letztlich ist es mir auch gleich, wie du darüber denkst. Siehst du: Ich habe mein ganzes Leben versucht, den Erwartungen und dem Urteil der anderen zu genügen: Howards Urteil, dem
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