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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Urteil der Kunden, dem Urteil der Nachbarn, die uns beobachten, dem Urteil der Jungs, und auch deinem Urteil. Euer Urteil war der Maßstab. Es ist schon einige Zeit her, da vergaß ich aus Erschöpfung zu tanken und blieb liegen. Als ich auf Hilfe wartete, kam mir das erste Mal der Gedanke an den Schlauch. Ich erschrak und schämte mich: Was würdet ihr denken! Als ich einige Zeit später, nach einer schrecklichen Woche mit lauter Mißerfolgen, wieder dort vorbeikam, geschah etwas Sonderbares: Beim Gedanken an den Schlauch schämte ich mich viel weniger als beim ersten Mal. Warum eigentlich muß ich mich danach richten, was die anderen denken?, dachte ich. Es ist doch mein Leben, meine Verzweiflung und meine Entscheidung. Und weißt du was: Es ging mir richtig gut auf dem letzten Teil der Strecke. Ich komme hier ja immer ein bißchen gebückt herein mit den schweren Musterkoffern. Aber innerlich betrat ich das Haus hoch erhobenen Hauptes. Ein paar Tage später montierte ich das neue Ventil am Wasserkessel und richtete den Schlauch her. So, nun weißt du, wie es in mir aussieht. Ich hätte es lieber für mich behalten. Aber nun, wo es heraus ist: Ich stehe zu mir.«
    Was Loman beschreibt, ist nichts weniger als das: Indem er die Tyrannei des fremden Blicks und der drohenden Scham überwindet, gewinnt er seine Würde zurück. Das läßt sich verallgemeinern: Wenn ich einen Makel an mir sehe, den ich verstecken will und vor dessen Offenbarung ich mich fürchte, weil ich dann beschämt dastünde, so kann dafür das fremde Urteil verantwortlich sein oder das eigene. Ich verstecke den Makel und fürchte die Entlarvung, weil die anderen mich verurteilen könnten, oder weil ich selbst mich verurteile. Der Kampf um die eigene Würde angesichts der tatsächlichen oder befürchteten Beschämung beginnt damit, daß ich mich auf diese Unterscheidung besinne und mich frage: Ist es eigentlich unvermeidlich, daß ich mir das Urteil der anderen zu eigen mache, in deren Licht betrachtet das ein Makel ist, eine Schande und eine Schmach?
    Der innere Schritt, den Loman beschreibt, ist der Schritt, den viele tun, um ihre verloren geglaubte Würde zurückzugewinnen: Homosexuelle etwa oder Arme, Kranke und Entstellte. Die Logik ist die Logik der berühmten Worte, mit denen die Schwarzen Beschämung und Demütigung abzuschütteln suchten: Black is beautiful. Es ist, als ob sie alle ausriefen: »Das könnte euch so passen, aber wir denken gar nicht daran, uns für so etwas zu schämen! Das ist kein Makel!« Auch für den Heroinsüchtigen, der seine Dosis abholt, ist das der befreiende Gedanke. Oder für denjenigen, der Medikamente braucht, die dem Apotheker die psychotische Erkrankung verraten. Früher fuhr er in weit entfernte Dörfer, um das Rezept einzulösen, und nie zweimal in dieselbe Apotheke. Es war entwürdigend, aus Scham die immer länger werdenden Strecken zu fahren. Jetzt geht er im eigenen Dorf in die Apotheke. Er steht ruhig vor dem Apotheker und sieht ihm gerade in die Augen: »Ja, ich bin krank«, sagt sein Blick, »aber ich sehe keinen Grund, mich dafür zu schämen – ganz gleich, was Sie hinter Ihrer Brille denken mögen.« Ähnlich fest ist der Blick des Analphabeten, der sich für den Lesekurs anmeldet: »Ja, ich bin schon ziemlich alt und kann nicht lesen. Ich habe mich viel zu lange geschämt. Das war ganz unsinnig, und nun ist Schluß damit.« Und auch einen Bettler, der nicht beschämt zu Boden blickt, kann man sich vorstellen: »Ja, ich habe nichts zu essen und bin auf Ihr Almosen angewiesen. Aber das ist keine Schande, sondern nur ein Unglück, und ich bin deshalb nicht weniger wert als Sie.«
    Wer auf diese Weise seine Würde zurückgewinnt, macht sich bewußt, daß es keinen unaufhebbaren Zwang gibt, das fremde Urteil zu verinnerlichen – keinen zwingenden Grund, warum ich mich nur noch mit den Augen der anderen sehen müßte. Lautlos hatten die fremden Richter den Weg in mich hinein gefunden. Jetzt verjage ich sie. Dann verschwindet auch das Bedürfnis, mich durch Verstecken zu schützen, weil die Bedrohung durch den fremden Blick, die ich selbst inszeniert hatte, nicht mehr besteht. Ich stehe nun zu dem, was ich vormals als Makel erlebt hatte und was nun keiner mehr ist. Ich stehe aufrecht vor den anderen, die mich nun ruhig so sehen dürfen, wie ich bin. Ich kann nicht verhindern, daß sie mich deswegen immer noch mit derselben dogmatischen Unnachgiebigkeit verurteilen. Doch sie stehen nun dort draußen und

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