Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
immer weiter und weiter.
Warum ist es so schlimm, wenn mein Makel für die anderen sichtbar wird? Was genau ist es, was wir in der Entlarvungsangst fürchten und im Augenblick akuter Scham mit grausamer, seelisch vernichtender Wucht erleben? Es ist ein Verlust . Was wir verlieren, ist die Achtung, Anerkennung und Wertschätzung der anderen. Bevor der Makel offenbar wird, bin ich einer, den man achtet, dessen Urteil etwas gilt und auf dessen Achtung und Anerkennung man umgekehrt auch Wert legt. Dann kommt ein schwerwiegender Betrug an den Tag, eine folgenreiche Lüge, eine Akte, die mich als Denunzianten ausweist oder als Kollaborateur mit dem Feind. Von diesem Tag an ist alles anders.
Die Konsequenz kann darin bestehen, daß man etwas mit mir macht : mich abführt und anklagt oder auf andere Weise an den Pranger stellt. Doch die Konsequenz kann auch einfach der neue Blick sein, der auf mich fällt. Es ist der Blick der Verachtung. Es ist ein Blick, der Ächtung und, biblisch gesprochen, Verwerfung bedeutet. »Von jetzt an gehörst du nicht mehr zu uns«, sagt der Blick. Das ist es, was ich fürchte, wenn ich alles tue, um den Makel der Verfehlung zu verbergen und die Entlarvung zu verhindern: daß ich ausgestoßen, verstoßen und verworfen werden könnte. Ich weiß: Damit verliere ich meine Autorität als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft. Ich kann nicht mehr Anspruch auf Respekt erheben, und mein Urteil wird in Zukunft nicht mehr zählen. Niemand wird mehr Wert auf meine Achtung und Anerkennung legen. Ich darf mich mit keiner eigenen Stimme mehr zu Wort melden. Wenn ich es tue, werde ich ausgelacht. Was immer ich sage: Ich werde nicht mehr ernst genommen. Von jetzt an werde ich anders angeblickt und bin für die anderen anders in der Welt. Als Beschämter bin ich auch für mich selbst anders in der Welt. Ich bin so in der Welt, als dürfte ich gar nicht in der Welt sein. Ich gehe, wenigstens im Inneren, nur noch gebeugt. Es kann mir vorkommen, als könnte ich nicht mehr atmen, als drohte ich zu ersticken. Jetzt, wo ich mich nicht mehr zu Wort melden darf und keinen Anspruch auf Anerkennung und keine Autorität mehr habe, ist das Leben zu etwas geworden, was nicht mehr gelebt, sondern nur noch ertragen werden kann. Als lebendiges, selbstbewußtes, sich entfaltendes Leben ist es zu Ende.
Scham verändert auch die Art, wie wir die Zeit unseres Lebens erfahren. Die Angst vor der Entlarvung verstellt uns eine lebendige Gegenwart: Jeder Moment ist einer, in dem die Entlarvung geschehen könnte, und deshalb ist er ein Moment, auf den ich mich nicht unbefangen einlassen kann. Die im Inneren vorweggenommene Beschämung wirft auf alles den Schatten einer Befangenheit und eines beklommenen Wartens. Wem immer ich begegne: Er besitzt, weil er mich entlarven könnte, die Autorität des Richters über meine Verfehlung und hindert mich daran, in seiner Anwesenheit ganz in der Gegenwart aufzugehen, denn das würde verlangen, daß ich nicht ständig auf der Hut sein müßte. Und ist die Entlarvung dann geschehen, ist mir die Gegenwart für alle Zeit genommen. Scham löscht lebendige Gegenwart aus. Ich könnte sie nur wiedergewinnen, wenn mir das Unmögliche gelänge: die Verfehlung ungeschehen zu machen.
Die Erfahrung der Scham ist keine flüchtige Episode des Empfindens, die nur in Anwesenheit der anderen auftritt und dann wieder verschwindet. Sie ist kein vorübergehendes Gefühl wie ein Ärger oder eine Furcht beim Anblick eines anderen, die in Vergessenheit geraten, sobald er aus dem Blickfeld verschwindet. Die Scham des Entlarvten und Beschämten ist nichts, was er vergessen kann. Sie kann überdeckt werden durch Erfahrungen hitziger Aktualität, für die der Beschämte dankbar ist, weil er die Scham für eine Weile nicht zu spüren braucht. Doch wenn die emotionale Fliehkraft des Aktuellen nachläßt und er wieder näher bei sich selbst ist, ist die Scham sofort wieder da, und die Veränderung in seinem Leben, die durch die Beschämung eingetreten ist, ist aufdringlich und bedrängend wie zuvor. Sie ist etwas, mit dem er aufwacht und mit dem er einschläft. Sie wird in seine Träume einsickern. Es kommt ihm vor, als würde sie sogar seinen Tod überdauern.
Warum hat Scham eine solche Macht über uns? Wir erfahren den Makel, wenn er einmal aufgedeckt ist, als etwas, was uns den Blicken der anderen ausliefert . Ob es die Blicke der Nachbarn sind, diejenigen des Publikums im Gerichtssaal oder diejenigen der
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