Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Fernsehzuschauer: Es kommt uns vor, als könnten wir uns in unserer Scham gegen diese Blicke überhaupt nicht wehren, weder mit Worten noch mit Taten. Es sind die anderen, die am Zug sind, und sie werden nun für immer am Zug bleiben. Es ist eine Erfahrung der Ohnmacht . Weil die verächtlichen Blicke von den anderen kommen, also von außen, kann es scheinen, als lägen die Dinge wie bei einer gewöhnlichen Ohnmacht: Es kommt etwas auf mich zu wie bei einer Lawine, die mich ohnmächtig unter sich begräbt. Nur sind es jetzt Blicke, es ist eine Blicklawine, gegen die es keinen Schutzwall gibt. Doch warum gibt es ihn nicht? Warum gibt es keine innere Brandmauer, die mich gegen die Beschämung schützt? Es gibt doch auch sonst viele kritische Blicke, die auf mich fallen. Die lasse ich abtropfen und gehe weiter. Oder, wenn die Blicke zudringlicher und bedrohlicher werden, etwa unter einer Diktatur, gehe ich in die innere Emigration und suche Schutz in der inneren Zitadelle. Warum ist das nicht möglich, wenn es um eine Entlarvung geht, bei der ein Versagen oder eine Verfehlung ans Licht kommt?
Es ist deshalb so, weil ich selbst an der Ohnmacht mitwirke . Die Erfahrung der Scham bekommt ihre vernichtende Wucht nicht schon dadurch, daß die anderen mich wegen meines Makels, meiner Verfehlung, verurteilen. Wirklich mächtig wird die Scham erst dadurch, daß ich mich dem Blick und dem Urteil der anderen unterwerfe . Statt dem fremden Blick, wie sonst auch, mit einem eigenen Blick und einem selbständigen Urteil zu begegnen, vor dem er haltmachen müßte, übernehme ich das fremde Urteil und mache es zu meinem eigenen. Ich verinnerliche es. Ich betrachte mich mit den Augen der anderen. Ich ernenne sie, ohne daß das ein bewußter Akt wäre, zu meinen Richtern. Ich beuge mich ihrem Urteil, ihrem vernichtenden Verdikt. Und wenn der Gerichtshof innen ist, dann ist es fast schon gleichgültig, ob die anderen wirklich anwesend sind. Die Scham als verinnerlichte Verurteilung wirkt auch so. Ich übernehme das vernichtende Urteil und lebe fortan vor mir selbst als einer ohne Autorität, einer, dessen Urteil und Anerkennung nichts mehr wert ist. Der innere Vernichtungsfeldzug, den ich, stellvertretend für die anderen, selbst anführe, ist nicht aufzuhalten. Jeder Rückzug ist abgeschnitten. Die Ohnmacht ist vollkommen.
Beschämung als Demütigung
Willy Loman, dem erschöpften und verzweifelten Handlungsreisenden, sind wir schon mehrfach begegnet. Eines Tages findet Linda, seine Frau, im Keller etwas, was sie erschüttert.
LINDA: Letzten Monat … Ach, Jungs, es ist so schwer, davon zu sprechen! Ich suchte nach einer Sicherung. Das Licht war ausgegangen, und ich ging in den Keller hinunter. Da fiel hinter dem Sicherungskasten – es war der reine Zufall – ein kurzes Stück Gummischlauch herunter.
BIFF: Ach, wirklich?
LINDA: Am einen Ende ist ein Anschlußteil. Da wußte ich’s. Und tatsächlich, unten am Warmwasserkessel ist ein neues Ventil an der Gasleitung.
HAPPY: So ein Idiot!
BIFF: Hast du’s weggenommen?
LINDA: Ich … es ist mir peinlich. Wie soll ich das zur Sprache bringen? Jeden Tag gehe ich runter und nehme den kleinen Gummischlauch weg. Wenn er aber heimkommt, tue ich ihn zurück. Ich kann ihn doch nicht so beschämen!
Lomans Verzweiflung ist so groß, daß er den Tod durch Gas erwägt. Für jemanden, der an den Amerikanischen Traum glaubte, ist das ein Versagen und ein Makel. Deshalb versteckt er den Schlauch. Erführe er, daß Linda davon weiß, müßte er es als Beschämung erleben: Er stünde vor ihr als einer, der sich seiner Verzweiflung und seiner tödlichen Absicht schämt. Die Situation brächte die Erfahrung der Ohnmacht mit sich, und es wäre eine doppelte Ohnmacht. Einmal wäre es die Ohnmacht der Scham, wie ich sie vorhin beschrieben habe: Er müßte das Gefühl haben, Lindas Anerkennung und Wertschätzung verloren zu haben, und weil er sich ihren Blick zu eigen machte, stünde er nun auch vor sich selbst als einer da, der keine Autorität mehr hat und kein Recht auf eine eigene Stimme. Und noch eine andere Ohnmacht würde er spüren: Er hatte die Entlarvung, die Entdeckung des Makels, nicht verhindern können.
Diese doppelte Ohnmacht gehört zur Logik jeder Beschämung: Wir zeigen dem Beschämten, daß seine Macht nicht weit genug reichte, um den Makel zu verstecken, und nun lassen wir ihn die Ohnmacht der verlorenen Anerkennung und Autorität spüren, zu der er selbst, indem er den
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