Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
sein: Sie haben, obwohl es möglich gewesen wäre, keine Ersparnisse angelegt, die Ihnen jetzt bei den Schulden helfen könnten. Wären Sie vorsichtiger und klüger gewesen, stünde der Möbelwagen jetzt nicht vor der Tür, es gäbe für die Nachbarn keinen Makel zu begaffen. Auf ähnliche Weise mag es einem Analphabeten gehen, der unterschreiben soll und es nicht kann. Auch sein Gesicht wird brennen. Auch er geniert sich. Und obwohl es aus seiner Lebensgeschichte verständlich sein mag, warum er nie lesen und schreiben gelernt hat, wird er es vielleicht auch als ein Versäumnis spüren, als einen Makel, der nicht einfach Schicksal war.
Noch anders und noch stärker brennt das Gesicht, wenn es nicht ein Versäumnis ist, das wir uns ankreiden, sondern eine Handlung . Wenn meine Hände wegen Alkohols zittern, ist mir das ganz anders peinlich, als wenn es sich um eine Schüttellähmung handelt. Der eine Makel ist ein Schicksal, den anderen habe ich selbst zu verantworten. Ähnlich würden Sie empfinden, wenn Ihre Möbel aus dem Haus getragen würden, weil Sie Ihr Vermögen am Roulettetisch verspielt hätten. Jetzt wären Sie selbst verantwortlich, und der Blick der Nachbarn täte noch mehr weh.
Der Makel in den bisherigen Beispielen ist kein moralischer Makel: kein Makel, der mit einer moralischen Verurteilung verknüpft ist und die moralische Integrität gefährdet. Ein moralischer Makel – das könnte ein Verrat sein, ein Betrug, eine Lüge und Täuschung, eine Grausamkeit mit Schmerzen, Angst und Einsamkeit, eine Handlung, die ein Leben unwiderruflich beschädigt oder auslöscht. Ein solcher Makel ist eine Verfehlung . Wenn die Nachbarn am Zaun stehen, weil ich wegen einer Verfehlung abgeführt werde, so erlebe ich ihre Blicke noch einmal anders, als wenn es um meinen Bankrott geht, selbst wenn ich daran nicht unschuldig bin. Ich erfahre etwas anderes als die Verlegenheit desjenigen, der plötzlich im Rampenlicht steht, und es ist auch nicht bloß die Peinlichkeit einer Niederlage oder einer Schwäche, was ich erlebe. Ich spüre die volle und grausame Wucht der Scham . Ich schlage die Hände vors Gesicht. Ich möchte im Erdboden versinken.
Die Logik der Scham
Was ist geschehen? Wir sind entlarvt worden. Entlarven kann man uns nur – das ist eine begriffliche Beobachtung –, wenn wir etwas verbergen wollten. Das, was wir verbergen wollten, ist der Makel. Wir hatten eine schützende Fassade errichtet, um die anderen über den Makel hinwegzutäuschen. Die Fassade ist eingerissen, der Makel enthüllt worden. Nun fühlen wir uns bloßgestellt und schutzlos dem verurteilenden Blick der anderen ausgesetzt. Es ist, als stünden wir plötzlich nackt da. In einem ersten, noch sehr groben Umriß ist das die Erfahrung der Scham.
Unsere sprachlichen Gewohnheiten beim Wort »Scham« sind lose und locker. Die Art, wie wir darüber reden, ist auf zweifache Weise unscharf. Die eine Unschärfe betrifft den Umfang des Worts. Ich habe es für die Entlarvung einer Verfehlung, also eines moralischen Makels, aufgespart. Tatsächlich sprechen wir oft auch von Scham, wenn es um einen Makel geht, der keine Verfehlung bedeutet und bei dem ich bisher nur von Peinlichkeit und Genieren gesprochen habe: Jemand, so sagen wir, schämt sich seiner Sucht, seiner Armut, seines Stotterns, seiner Unfähigkeit bei Lesen und Schreiben. Und auch vom Spieler, der vor Millionen den entscheidenden Elfmeter verschießt und die Hände vors Gesicht schlägt, sagen wir: »Wie muß der sich schämen!« Trotzdem bleibe ich bei meiner Einschränkung, weil sich die Logik der Scham, wie wir sehen werden, an Verfehlungen am deutlichsten zeigt.
Unscharf verwenden wir das Wort »Scham« auch in anderer Hinsicht. Manchmal ist es der Name für das Erleben bei der Entlarvung eines Makels, der Name für die Empfindung hinter der Schamröte und dem brennenden Gesicht. Manchmal aber ist nicht die Empfindung von einem gemeint, der die Entlarvung erlebt, sondern das Erleben und Verhalten von einem, der die Entlarvung zu verhindern versucht: Aus Scham verschweigt jemand dem Anästhesisten, daß er Drogen nimmt; oder jemand, der als Homosexueller eine Tat nicht begangen haben kann, läßt sich aus Scham lieber verurteilen, als daß er sich mit seiner Neigung offenbarte. Hier ist, was wir Scham nennen, in Wirklichkeit Entlarvungsangst , gepaart mit der Anstrengung des Versteckens. Und natürlich gibt es das auch bei Verfehlungen: Aus Scham über meine Lüge lüge ich
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