Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
eine Weise behandeln, die ihm hilft, ein Empfinden der Würde zurückzugewinnen. Erst dann wird er sich wieder trauen, mit einer eigenen Stimme zu sprechen.
Der intime Raum
Der französische Lehrer Philippe Claudel ging elf Jahre lang jeden Tag ins Gefängnis von Nancy um zu unterrichten. Unter dem Titel Das Geräusch der Schlüssel veröffentlichte er seine Beobachtungen. Eine davon lautet so: »Das Guckloch an den Zellentüren, das es erlaubt zu sehen, ohne je gesehen zu werden. Der Häftling hörte das Geräusch der von einer Hand verschobenen Metallklappe und bemerkte ein beobachtendes Auge. Es war sehr gut möglich, daß er nie wußte, wem dieses Auge gehörte. Das war ganz einfach der befugte Blick, der den Begriff der Intimität auf die Seiten der Wörterbücher verwies. – Das Auge, das sich immer dann gegen die Tür heftete, wenn Linda B. sich wusch oder ihre Bedürfnisse verrichtete; das führte dazu, daß sie an Inkontinenz litt oder nachts in ihrem Bett unter sich machte. Alles kam wieder in Ordnung, als die Aufseherin, die sie so beobachtete, versetzt wurde.« Man denkt unwillkürlich an George Orwells Welt, in der jeder in jedem Moment und in jeder Situation beobachtet wird. Man denkt: Hier wird die Würde des Menschen verletzt. Man denkt es ohne Zögern, und die Worte scheinen glasklar. Doch was genau bedeuten sie? Was genau wird zerstört, wenn man einem Menschen die Möglichkeit nimmt, sich dem fremden Blick zu entziehen?
Wir wollen nicht in jedem Moment unseres Lebens, in jedem Lebensvollzug und jeder Lebensäußerung, beobachtet werden. Wir wollen allein und unbeobachtet sein, wenn wir ins Bad gehen und unseren Körper pflegen. Auch schlafend möchten wir uns nicht jedem beliebigen Blick aussetzen. Im Zug ziehen wir den Mantel vors Gesicht, wenn wir schlafen wollen. Wir brauchen Wohnräume, die uns vor zudringlichen Blicken schützen. Dort sind all die Dinge, mit denen wir uns als private Person ausdrücken: von den Möbeln über die Bücher bis zu den Bildern und den Nippsachen. Das ist der intime Raum, den wir uns geschaffen haben. Nur wenige dürfen ihn betreten. Wenn eingebrochen wird, wiegt der materielle Verlust manchmal weniger schwer als der Schock darüber, daß Wildfremde in den intimen Raum eingedrungen sind.
Wir nennen diesen Raum die Intimsphäre . Sie ist nichts, was von vornherein und für alle Zeit feststeht. Es steht in der Macht eines jeden, auch in der Macht einer Kultur, den Umfang dieser Sphäre frei zu bestimmen, ihre Grenzen festzulegen und diese Festlegung im Laufe eines Lebens auch zu verändern. Ich kann das Bedürfnis entwickeln, den intimen Raum mehr zu öffnen als früher, indem ich mehr von mir zeige. Das kann ganz ohne Nötigung geschehen, und ich kann es als Befreiung erleben – als etwas, was mir neue Erfahrungen aufschließt, neue Arten von Beziehungen, neue Möglichkeiten, mich zu entwickeln. Doch es kann auch geschehen, daß es die Umstände und der Wille anderer sind, die mich dazu nötigen, den Radius der intimen Sphäre zu verkleinern und mehr von mir und meinem Leben dem Blick anderer auszusetzen. Beengte Wohnverhältnisse können dazu führen oder der Aufenthalt in totalen Institutionen wie Armee, Gefängnis oder Krankenhaus. Da werden die gewohnten Schutzmauern der Intimität eingerissen. Das ist nicht nur unangenehm. Es kann darüber hinaus als eine Bedrohung erlebt werden. So hat es die Frau im Gefängnis von Nancy erlebt. Es gibt abgebrühte Häftlinge im Sicherheitstrakt, die auf den Rundgang verzichten, wenn sie sich zuvor vor dem Wärter ausziehen müssen. Es wäre eine Demütigung, eine demonstrierte und vom Wärter manchmal auch genossene Ohnmacht. Sie würde die Würde zerstören.
Wenn wir nicht verhindern können, daß die anderen die bisherigen Schutzmauern unseres intimen Raums einreißen, müssen wir sie immer weiter nach innen verschieben. »Gut, dann sehen sie auch das noch und wissen auch das noch«, denke ich, »aber das und das werden sie nie, niemals zu sehen bekommen.« Es ist der Rückzug in eine innere Festung, wo ich auch dann noch unsichtbar und unberührbar bin, wenn grelles Licht mich überflutet und zudringliche Hände nach mir greifen. Die Festung ist eng, und ich muß mich im Erleben kleinmachen, um mich noch hineinquetschen und die Tore verriegeln zu können.
Einen solchen Rückzug nach innen muß ich auch dann antreten, wenn ich meinen Körper als Lustobjekt für jedermann verkaufe, im Zuge der Prostitution oder
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