Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
haben keinen Zutritt mehr zu mir und keine Macht mehr über mich. Sie können mich immer noch ausschließen, mir Arbeit und Verdienst verweigern. Doch nun kann ich in eine andere Stadt ziehen und dort in Frieden mit mir selbst leben. Früher wäre die Flucht umsonst gewesen: Ich hätte ihren Blick und ihr vernichtendes Verdikt mitgenommen.
Was ich in einer solchen inneren Entwicklung zurückgewinne, ist meine verlorene Autorität und meine Stimme. Vielleicht bin ich ein Deserteur – einer, der im Krieg davongelaufen ist. Ich sah keinen Sinn darin, in den feindlichen Kugelhagel zu laufen. Ich wollte leben. Ich bin entkommen. Aber nach dem Krieg stand ich am Pranger als Feigling und Verräter. Die Demütigungen nahmen mir die Möglichkeit, mich zu behaupten. Ich habe das Land verlassen und mich anderswo verkrochen. Mein Gang war geduckt, und eine lebendige Gegenwart schien ich für immer verloren zu haben. Ich drohte, an meiner Beschämung zu ersticken. Da las ich über andere Deserteure und sprach mit einigen. Dadurch bekam mein ursprüngliches Urteil wieder die Oberhand: Ich traute mir die eigene, abweichende Stimme wieder zu und richtete mich auf. Ich konnte mich über die Demütigungen empören und schüttelte die Ohnmacht ab, die sie mit sich gebracht hatten. Ich fuhr in die Heimat und suchte den offenen Konflikt. Ich stellte die Berechtigung dieses Krieges in Frage. Ich verteidigte mich. Ich war zurück in der Gegenwart.
Was aber geschieht, wenn ich die Scham nicht los werde, weil ich die aufgedeckte Verfehlung auch selbst als Makel betrachte? Wenn die Verfehlung so groß und so eindeutig ist, daß ich auch vor mir selbst nicht bestehen kann? Was kann es bedeuten, mit Würde auf ein solches inneres Zerwürfnis zu reagieren?
Nehmen wir an, daß Willy Loman im Keller nicht einen Schlauch versteckt hat, sondern Papiere, die eine Bespitzelung und einen Verrat beweisen: Er hat einen Freund für Geld an McCarthys Hexenjäger verraten. Der Verrat hat den Mann und seine ganze Familie ruiniert. Er hat sich das Leben genommen. Die Familie lebt im Elend. Linda findet die Beweise. Was kann Loman tun, um seine Würde, die im Strudel der Verfehlung untergegangen ist, zurückzugewinnen? Gibt es irgend etwas, was er tun kann? Etwas, was nicht im Verdacht des Vergessens, der Beschönigung oder der Selbsttäuschung steht? Und was für eine Art Würde könnte da entstehen?
Zuerst müßte es darum gehen, daß Loman versteht , wie es dazu kommen konnte: daß er auf der Suche nach den Motiven aufrichtig ist. Ein politisches Motiv erschiene vordergründig, die Erklärung zu billig. Auch das Geld allein reicht als Motiv nicht, dazu ist es zu wenig und die Verfehlung zu groß. Nein, es ging um ihn und seine Empfindungen dem einstmaligen Freund gegenüber. Es könnte Neid auf dessen Erfolg gewesen sein, der in unerträglichem Kontrast zum eigenen Mißerfolg stand. Oder brennende Eifersucht, weil er sah, wie der Mann um Linda warb und wie er ihr gefiel. Oder eine Demütigung, längst vergangen und doch nie vergessen. Wichtig ist, daß Loman, indem er das wahre Motiv findet, versteht und spürt, daß der Verrat kein Ausrutscher war, kein oberflächlicher Fehler, sondern eine sprechende Episode in seinem unglücklichen Leben.
Das Verstehen und die Aufrichtigkeit allein werden nicht reichen. Es wird auch um das gehen, was wir Reue nennen: das helle, unverstellte Bewußtsein einer unentschuldbaren Verfehlung, gepaart mit der Trauer darüber, daß wir uns durch diese Tat als moralisch integre Person verloren haben. Sich diesem Verlust zu stellen und ihn anzuerkennen, wird für Loman entscheidend sein. Es könnte der Beginn einer langsamen, leisen Versöhnung mit sich selbst werden. Nicht im Sinne eines Wegretouchierens. Eher im Sinne des Gedankens, daß er durch die Art, wie er nun weiterlebt, irgendwann zu sich als moralischer Person zurückfinden kann. Die neu erworbene Würde, könnte man vielleicht sagen, bestünde in dem stets gefährdeten Gleichgewicht zwischen dem ungeschönten Erinnern und der Zuversicht in eine neue moralische Integrität.
Dieses Gleichgewicht wird Loman nicht allein in sich selbst finden können. Er wird den Blick der anderen brauchen. Den Blick derer, die bereit sind, die Ächtung aufzuheben und ihn wieder anzunehmen. Die anderen werden dazu nur bereit sein, wenn Lomans Reue und Trauer sich in seinem Tun zeigen. Erst wenn sie sehen, daß er versucht, etwas wiedergutzumachen, werden sie ihn mit der Zeit auf
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