Eine Billion Dollar
ihm vorbei, aber es war ein Blick, der in Wirklichkeit in die Vergangenheit gerichtet war. »Hier hat alles angefangen. Die ersten Demonstrationen, September 1989. Hier in Leipzig. Im November sind die Leute schon überall im Land auf die Straße gegangen. Ungarn hat seine Grenzen in den Westen geöffnet, und am neunten November ist die Grenze nach Westdeutschland geöffnet worden. In die Bundesrepublik. Und ein Jahr später gab es keine DDR mehr.« Sie schauderte unmerklich. »Das sagt sich alles so leicht. Es ist etwas anderes, wenn man dabei war.«
Sie deutete auf einen einigermaßen modernen, rechteckigen Bau schräg gegenüber, viel Weiß und viel Glas, mit einem gewaltigen, dunkel angelaufenen Relief über dem Eingang. »Das war der Ort meiner Sehnsucht. Die Universität.« Ein schmerzliches Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Der Kopf auf dem Relief soll übrigens Karl Marx sein. Das Ding ist aus massivem Metall und derart mit dem Fundament verbaut, dass man das Gebäude einreißen müsste, um es zu entfernen. Nur deshalb ist es noch da.« Sie drehte sich um und wies auf einen lang gezogenen Gebäudekomplex gegenüber. »Dort habe ich gearbeitet. In der Hauptpost, Verwaltungskram, Abrechnungen tippen, belangloses Zeug. Damals habe ich es für Zufall gehalten, dass die Universität in Sichtweite war. In den Mittagspausen habe ich mich manchmal unter die Studenten gemischt und mir vorgestellt, ich würde dazugehören.«
»Und warum hast du nicht dazugehört?«, fragte John behutsam.
»Dazu hätte ich die Polytechnische Oberstufe absolvieren müssen, und das hat man mir nicht erlaubt. Nicht weil ich zu dumm dazu war, sondern weil ich aus der falschen Familie stammte. Aus politischen Gründen.« Sie hob ihre Tasche hoch und schulterte sie unschlüssig. »Politik. Es war alles Politik. Ich habe mich lang von den Demonstrationen fern gehalten, wollte nicht noch mehr auffallen… Ich hatte Angst. Man hat gewusst, dass die Stasi jeden fotografiert, der zu den Gottesdiensten in der Nikolaikirche ging. Trotzdem sind immer mehr hingegangen, selbst als die Kirche längst zu klein für alle war. Nach dem Gottesdienst marschierten sie hier heraus, auf den Karl-Marx-Platz, und zogen dann weiter zum Bahnhof, den ganzen Innenstadtring entlang, mit Kerzen in der Hand, friedlich. Das hat die Regierung fertig gemacht: dass alle friedlich geblieben sind. Sonst hätte man Anlass gehabt, einzugreifen, verstehst du? Aber so… Sie zogen am ›Runden Eck‹ vorbei, dem Hauptquartier der Stasi, sangen Lieder und stellten Kerzen auf die Eingangstreppe. Was sollten sie machen? Es war ja alles harmlos, oder? In Wirklichkeit war es der Anfang vom Ende.«
John hörte ihr fasziniert zu, versuchte sich vorzustellen, wie dieser so alltäglich wirkende Ort, den er sah, damals gewesen sein mochte, und wusste, dass er es nicht einmal ahnen konnte.
»Der Höhepunkt war der neunte Oktober. Ein Montag. Die Demonstrationen waren immer montags. Es gab Gerüchte, dass das ZK der SED beschlossen hätte, an diesem Montag die Konterrevolution in Leipzig niederzuschlagen. So nannten sie das. In Wirklichkeit hieß das, dass sie auf die Demonstranten schießen lassen wollten. Das war das, vor dem alle immer Angst gehabt hatten – vor der ›chinesischen Lösung‹. Im Juni hatte es diese Studentenrevolte in Peking gegeben, weißt du noch? Auf dem ›Platz des himmlischen Friedens‹, als die Regierung mit Panzern gekommen ist und es Tote gegeben hat. Viele haben geglaubt, dasselbe würde in Leipzig auch passieren. Aber sie sind trotzdem gegangen.«
Sie sah zu dem langen, sandbraunen Gebäude hinüber, das immer noch die Hauptpost war. »Ich war an dem Abend im Büro. Ich bin länger geblieben, es gab viel zu tun und so weiter, aber vor allem … ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich sehen, wie es passiert. Ich weiß noch, wie wir am Fenster standen, da oben, im vierten Stock… wir hatten das Licht ausgeschaltet, standen nur am offenen Fenster, und da kamen sie… Tausende von Menschen, der ganze weite Platz voller Menschen, überall, den Springbrunnen gab es damals noch nicht… und sie riefen: ›Wir sind das Volk.‹ Immer wieder diesen einen Satz, wieder und wieder unter dem schwarzen Himmel, im Schein der Straßenlampen, wie mit einer Stimme – ›Wir sind das Volk. Wir sind das Volk.‹ Das ging mir durch und durch. Es hat mich nicht mehr gehalten, ich bin runter und mit dazu. Mir war egal, was passieren würde. Wenn sie schießen würden,
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