Eine Braut muss her!
Die Schlaufen des Seils entrollten sich, und der Stein blieb kurz vor dem Viscount hängen.
Sehr behutsam streckte Russell die rechte Hand aus, bekam ihn zu fassen und krallte die Finger um das Seil. Nicht minder vorsichtig reckte er den linken Arm, schloss die Hand um die andere und zog sich, die Knie hart auf den Boden stemmend, Stück für Stück an dem von Mr Harding gleichzeitig eingeholten Seil höher, bis er sich auf die Füße stellen konnte. An dem jetzt straff gespannten Seil hangelte er sich keuchend, die starken Schmerzen verdrängend, Schritt für Schritt über die Geröllhalde in die Höhe.
Als er nah genug war, legte George sich auf die Erde, streckte ihm die Hände entgegen und ergriff ihn an den Unterarmen. Schnaufend zog er ihn, sich dabei auf Ellbogen und Knien zurückstemmend, über den Rand des Steinbruchs und blieb, sobald Lord Hadleigh in Sicherheit war, vollkommen außer Atem neben ihm liegen.
Mary wunderte sich, warum Russell nicht, wie versprochen, nach dem Besuch bei Mr Winding zu ihr gekommen war. Immer wieder schaute sie zur Uhr und begriff nicht, weshalb er sich nicht blicken oder ihr nicht, wie er das sonst zu tun pflegte, die Nachricht überbringen ließ, er sei leider verhindert.
Bis zum frühen Nachmittag war sie so unruhig geworden, dass sie schließlich mit der Tante über Russells ungewöhnliches Verhalten sprach.
“Ach, mach dir keine Sorgen”, erwiderte Charlotte beschwichtigend. “Wahrscheinlich ist ihm etwas dazwischengekommen, ohne dass er die Möglichkeit hatte, dich davon in Kenntnis zu setzen.”
Mary redete sich ein, das könne natürlich der Fall sein, fragte sich jedoch beklommen, ob ihm ein Unglück zugestoßen sein mochte.
Zu ihrem Befremden verstrich der Tag, ohne dass sie etwas von Russell gehört hatte. Auch in den nächsten vier Tagen bekam sie keine Nachricht von ihm, und der bereits erwachte Verdacht, er könne den Aufenthalt in Eddington Court leid geworden und nach London zurückgekehrt sein, verstärkte sich. So die Vermutung zutraf, hatte er sie ein zweites Mal ohne Abschied im Stich gelassen.
Mittlerweile war sie so unsicher geworden, dass sie der Tante sagte, sie werde mit Payne als Begleiter nach Eddington Court reiten. “Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Russell mich nicht informieren würde, falls er krank geworden ist”, sagte sie bedrückt, “aber ich kenne die genauen Umstände nicht, die zu seinem seltsamen Verhalten geführt haben. Ich will mir Gewissheit verschaffen!”
Sofort nach dem Frühstück brach sie mit dem Reitknecht auf, galoppierte nach Eddington Court und hielt, von dem scharfen Ritt etwas echauffiert, vor dem Haupteingang an.
Beim Absitzen sah sie, dass die Tür vom Butler geöffnet wurde. “Ich möchte Seine Lordschaft sprechen”, rief sie ihm außer Atem zu.
“Bitte, kommen Sie herein, Madam”, erwiderte Peter unbehaglich.
Sein Ton und seine Miene irritierten sie und gaben ihr das Gefühl, etwas sei nicht in Ordnung. Besorgt betrat sie das Entree und drehte sich zu Briggs um.
“Ich muss Sie bitten, Madam, sich einen Moment im Empfangssalon zu gedulden”, äußerte er höflich.
“Warum?”, fragte sie befremdet.
“Mr Shaw wird Ihnen alles erklären”, antwortete Peter hastig. “Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich werde ihn holen.”
Mit unguten Vorahnungen betrat sie den Raum, setzte sich in einen Fauteuil und hörte ein Weilchen später Schritte. Gleich darauf wurde die Tür aufgemacht, und der Verwalter trat ein.
“Guten Morgen, Mrs Wardour”, begrüßte er sie. “Wie ich hörte, möchten Sie Seine Lordschaft sprechen. Hat er Sie nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass er nach London fahren wollte? Er ist vor drei Tagen abgereist.”
Mary spürte das Blut aus den Wangen weichen. “Hat er eine Nachricht für mich hinterlassen?” erkundigte sie sich bang.
“Leider nein, Madam”, antwortete Arthur und schüttelte bedauernd den Kopf. “Da ich annahm, Sie wüssten über seine Absichten Bescheid, habe ich ihn natürlich nicht gefragt, ob ich Ihnen etwas ausrichten solle.”
Mary begriff, dass sie ein weiteres Mal von Russell sitzen gelassen worden war. Schon beim ersten Mal war sie fassungslos gewesen, doch nun hatte sie das Gefühl grenzenloser Enttäuschung. Sie hielt sich vor, viel zu leichtgläubig gewesen zu sein, musste sich jedoch eingestehen, dass nicht sie allein, sondern auch die Tante Russell für integer gehalten hatte. Aber offenbar hatte man sich gravierend in ihm
Weitere Kostenlose Bücher