Eine Chance für die Zukunft (German Edition)
als hätte ich mir tatsächlich Lillys Grippe eingefangen. Ich weiß aber,
dass mir körperlich nichts fehlt. Es ist erst zehn Uhr morgens, kommt mir aber
vor, wie später Abend. Ich bin so müde und will nur noch schlafen. Bewegungslos
starre ich den ganzen Tag an die Decke bis es Zeit wird, Lilly vom Kindergarten
abzuholen. Ich funktioniere, bis Lilly ins Bett geht, auch wenn ich mich wie
betäubt fühle. Dann liege ich wieder da und mache nichts.
So geht das die nächsten
zwei Wochen. Ich stehe auf, mache meine Tochter fertig, fahre sie in den
Kindergarten und lege mich zu Hause auf die Couch oder ins Bett. Nachmittags hole
ich sie ab, fahre sie zum Spielen oder spiele selbst mit ihr bis sie ins Bett
geht und ich wieder auf mein Sofa. Aber egal, was ich mache, ich bin nicht mit
dem Herzen dabei, kann mich an nichts mehr erfreuen und es fällt mir von Tag zu
Tag schwerer, Lilly eine heile Welt vorzuspielen, den Anschein zu machen, als
ginge es mir gut, obwohl mein Herz in Trümmern liegt und ich mich eigentlich
nur komplett von allem abschotten möchte. Ich weiß, dass ich dringend etwas
essen sollte, aber ich kann nicht. Ich bekomme fast nichts herunter und wenn
ich etwas esse, schmecke ich nichts. Auch ohne auf die Waage zu steigen, weiß
ich, ich habe diverse Kilo abgenommen. Meine Jeans schlackern um meine Hüften
und ich kann im Spiegel deutlich meine Rippen, meine Beckenknochen sehen. Noch
immer habe ich das Gefühl, mir tut alles weh. Innerlich bin ich total kalt, als
wäre ein Teil von mir abgestorben. Seit Tagen habe ich mich nicht mehr
geschminkt oder mein Telefon abgenommen. Ich liege nur da und grübele und immer
wieder gehen mir Colins Worte durch den Sinn. Wie kann ich ihm jetzt noch
erklären, wie es wirklich war? Es würde nur nach einer blöden Ausrede klingen.
Außerdem scheint sein Bild von mir festzustehen. Ich bin eine Schlampe, die mit
jedem ins Bett geht.
Irgendwann klingelt es gegen
Abend an meiner Tür. Ich will nicht öffnen, aber Lilly rennt sofort los. Mein
Bruder Chris steht unangemeldet davor und mustert mich schweigend von oben bis
unten. Je länger er mich ansieht, desto mehr verdunkelt sich sein Blick.
„Ach herrje, siehst du
scheiße aus!“
Na danke. Solche
Kommentare haben mir gerade noch gefehlt.
„Was willst du Chris?“
„Ich wollte nur mal sehen,
wie es dir geht. Du reagierst weder auf Anrufe, noch auf Emails. Ich habe mir
Sorgen gemacht.“
Was soll ich sagen?
„Es geht mir gut. Ich lebe
noch, du kannst wieder gehen.“
Ich versuche ihn aus der
Tür zu schieben, aber da kenne ich meinen Bruder wohl schlecht. So leicht lässt
er sich nicht abwimmeln.
Chris schickt Lilly auf
ihr Zimmer zum Spielen. Er will anscheinend ernsthaft mit mir reden und wenn er
sich so etwas in den Kopf gesetzt hat, wird man ihn nicht wieder los. Da kann
ich auch gleich aufgeben und es hinter mich bringen.
„So, jetzt erzähl mal
Schwesterherz. Was ist passiert?“
Er nimmt mich in den Arm
und führt mich zur Couch. Da zieht er mich in seine Arme und bettet meine Kopf
an seiner Schulter, streichet mir über den Rücken. Mehr braucht es nicht, bei
mir brechen alle Dämme. Schluchzend erzähle ich ihm alles, was in den letzten
Wochen passiert ist. Angefangen mit der Begegnung im Coffeeshop - wovon er ja
von unserer Mutter schon gehört hat - bis hin zu dem Streit am Strand. Er hört
geduldig zu, ohne mich zu unterbrechen, obwohl er bei meinem Geheule wohl nur
die Hälfte versteht. Nachdem ich endlich alles losgeworden bin und sein T-Shirt
von meinen Tränen durchnässt ist, geht es mir etwas besser.
„So, du gehst jetzt schön
in die Badewanne und siehst zu, dass du mal wieder aussiehst wie ein Mensch.
Ich zaubere uns in der Zeit etwas zu essen und mache uns einen Wein auf. Und
dann überlegen wir uns, was wir machen.“
Es ist schön, dass jemand
anderer einmal die Verantwortung für mein Leben übernimmt und mir sagt, was ich
machen soll. Als ich im Bad in den Spiegel sehe, erschrecke ich. So schlimm
habe ich wohl noch nie ausgesehen. Gut, dass Chris gekommen ist.
Nach der Badewanne fühle
ich mich wieder etwas mehr wie ein menschliches Wesen. Auch wenn ich immer noch
ausgemergelt aussehe, habe ich zumindest wieder etwas Farbe im Gesicht.
Als ich in die Küche
komme, stellt Chris gerade das Essen auf den Tisch. Lilly sitzt schon brav auf
ihrem Stuhl und himmelt Onkel Chris an. Eigentlich kann ich ganz gut kochen,
aber mein Bruder schlägt mich um Längen. Auch wenn ich noch
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