Eine dunkle Geschichte (German Edition)
nicht da. Laurence hatte ein flaschengrünes Reitkleid zum Ausreiten, ein ärmelloses Kleid aus gewöhnlichem Wollstoff mit Schnüren, um zu Fuß auszugehen, und ein seidenes Morgenkleid fürs Haus. Gotthard, ihr kleiner Stallknecht, ein gewandter, kecker Bursche von fünfzehn Jahren, begleitete sie, denn sie war fast stets draußen und jagte auf allen Feldern von Gondreville, ohne daß die Pächter, noch Michu etwas dagegen hatten. Sie ritt ausgezeichnet und war eine wunderbar geschickte Jägerin. In der Gegend hieß sie nur das Fräulein, selbst während der Revolution.
Wer den schönen Roman »Rob Roy« gelesen hat, wird sich eines der seltnen Frauencharaktere erinnern, bei deren Schilderung Walter Scott seine gewohnte Kälte abgelegt hat, nämlich Diana Vernon. Diese Erinnerung kann zum Verständnis Laurences dienen, wenn man zu den Eigenschaften der schottischen Jägerin die verhaltene Begeisterung der Charlotte Corday hinzufügt, aber die liebenswürdige Lebhaftigkeit fortläßt, die Diana so anziehend macht. Die junge Gräfin hatte ihre Mutter sterben, den Abbe von Hauteserre fallen, den Marquis und die Marquise von Simeuse auf dem Schafott enden sehen. Ihr einziger Bruder war seinen Wunden erlegen; ihre beiden Vettern, die in der Armee Condés dienten, konnten jeden Augenblick fallen; schließlich war das Vermögen der Simeuses und der Cinq-Cygnes von der Republik verschlungen worden, ohne der Republik zu nützen. Ihr Ernst, der in anscheinende Stumpfheit ausgeartet war, wird jetzt begreiflich.
Herr von Hauteserre zeigte sich übrigens als Vormund höchst ehrlich und einsichtig. Unter seiner Verwaltung nahm Cinq-Cygne die Gestalt eines Pachthofes an. Der Biedermann, der weit weniger einem Ritter als einen tüchtigen Landwirt glich, hatte den Park und die Gärten, die etwa zweihundert Morgen umfaßten, nutzbringend verwertet. Sie lieferten ihm Futter für die Pferde, Nahrung für die Leute und Brennholz. Dank strengster Sparsamkeit hatte die Gräfin, als sie großjährig wurde, durch Anlage der Einkünfte in Staatspapieren bereits ein hinreichendes Vermögen erlangt. Im Jahre 1798 besaß die Erbin 20 000 Franken in Staatsrenten, deren Zinsen freilich ausstanden, und 12 000 Franken in Cinq-Cygne, dessen Pachtverträge unter beträchtlichen Steigungen erneuert waren. Herr und Frau von Hauteserre hatten sich mit einer Leihrente von 3000 Franken aus der Gesellschaft Lafarge aufs Land zurückgezogen. Diese Trümmer ihres Vermögens erlaubten ihnen nicht, anderswo als in Cinq-Cygne zu leben. Und so war es auch das erste, was Laurence tat, daß sie ihnen den Pavillon, in dem sie wohnten, auf Lebenszeit überließ. Die Hauteserres waren für ihr Mündel ebenso sparsam geworden wie für sich selbst. Sie legten jedes Jahr ihre tausend Thaler in dem Gedanken an ihre Söhne zurück und gaben der Erbin eine dürftige Kost. Die Gesamtausgaben von Cinq-Cygne betrugen jährlich nicht mehr als 5000 Franken. Aber Laurence, die sich um Einzelheiten nicht kümmerte, fand alles gut. Der Vormund und seine Frau standen unvermerkt unter der Herrschaft dieses Charakters, der sich in den kleinsten Dingen geltend machte, und sie waren schließlich dahin gelangt, das junge Mädchen, das sie von klein auf kannten, zu bewundern, ein ziemlich seltnes Gefühl. Aber Laurence hatte in ihrem Wesen, in ihren Kehllauten, ihrem gebieterischen Blick jenes Etwas, jene unerklärliche Macht, die stets imponiert, selbst wenn sie nur scheinbar ist, denn für Dummköpfe gleicht die Leere der Tiefe. Für den großen Haufen ist Tiefe unverständlich. Daher kommt vielleicht die Bewunderung des Volkes für alles, was es nicht versteht.
Herr und Frau von Hauteserre, denen das gewohnte Schweigen der jungen Gräfin und ihr ungeselliges Wesen tiefen Eindruck machte, lebten stets in der Erwartung von etwas Großem. Da Laurence mit klugem Sinn Gutes tat und sich nicht täuschen ließ, gewann sie sich große Achtung bei den Bauern, obwohl sie Aristokratin war. Ihr Geschlecht, ihr Name, ihr Unglück, ihr eigenartiges Leben, alles trug dazu bei, ihr Ansehen bei den Bewohnern des Tales von Cinq-Cygne zu verschaffen. Bisweilen ritt sie, von Gotthard begleitet, für ein bis zwei Tage fort, und bei ihrer Rückkehr fragten die Hauteserres sie nie nach den Gründen ihrer Abwesenheit. Bemerkenswert ist, daß Laurence nichts Wunderliches an sich hatte. Die Virago verbarg sich unter der anscheinend weiblichsten und schwächsten Form. Ihr Herz war von äußerster
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