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Eine dunkle Geschichte (German Edition)

Eine dunkle Geschichte (German Edition)

Titel: Eine dunkle Geschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Vettern in der letzten Nacht wiedergesehen hatte. Die beiden Söhne des Ehepaars Hauteserre hatten die Nacht im Zimmer der Gräfin verbracht, unter dem gleichen Dache wie ihre Eltern; denn um keinen Verdacht zu erregen, war Laurence, nachdem sie die beiden Hauteserres zur Ruhe gebracht hatte, zwischen ein und zwei Uhr morgens zum Stelldichein mit ihren Vettern gegangen und hatte sie mitten in den Wald geführt, wo sie sie in der verlassenen Hütte eines Forsthüters untergebracht hatte. Da sie des Wiedersehens gewiß war, zeigte sie nicht die geringste Freude, nichts, was die Erregung der Erwartung verriet; selbst die Spuren der Freude über dies Wiedersehen hatte sie verwischt und war völlig kalt. Die hübsche Katharina, die Tochter ihrer Amme, und Gotthard, die beide ins Geheimnis gezogen waren, paßten ihr Benehmen dem ihrer Herrin an. Katharina war neunzehn Jahre alt. In diesem Alter ist ein junges Mädchen so fanatisch wie Gotthard in dem seinen und läßt sich den Hals abschneiden, ohne ein Wort zu sagen. Gotthard aber hätte, wenn er nur das Parfüm roch, das seine Herrin in ihr Haar und an ihre Kleider tat, die Folter ertragen, ohne ein Wort zu sagen.
    In dem Augenblick, als Martha, von der drohenden Gefahr benachrichtigt, rasch wie ein Schatten auf die von Michu bezeichnete Bresche zueilte, sah es im Salon des Schlosses Cinq-Cygne höchst friedlich aus. Seine Bewohner ahnten so wenig, welcher Sturm über sie daherbrausen sollte, daß ihr Benehmen das Mitleid des ersten besten erregt hätte, der ihre Lage gekannt hätte. In dem hohen Kamin, der mit einem Wandspiegel geschmückt war, über dessen Scheibe Schäferinnen im Reifrock tanzten, brannte ein Feuer, wie es nur in Schlössern möglich ist, die am Waldrande liegen. An diesem Kamin lag die junge Gräfin in einem großen Lehnstuhl aus vergoldetem Holze, der mit wunderbarer grüner Seide gepolstert war, in der Haltung völliger Erschöpfung hingestreckt. Sie war erst um sechs Uhr von der Grenze von Brie zurückgekehrt, nachdem sie dem kleinen Trupp als Kundschafterin vorausgeritten war, um die vier Edelleute richtig nach dem Obdach zu bugsieren, wo sie ihre letzte Rast vor dem Einzug in Paris halten sollten, hatte Herrn und Frau von Hauteserre gegen Ende ihres Nachtessens überrascht und, vom Hunger getrieben, sich zu Tisch gesetzt, ohne ihr schmutzbespritztes Reitkleid und ihre Stiefel auszuziehen. Statt sich nach der Mahlzeit auszukleiden, hatte sie, von all ihren Anstrengungen überwältigt, ihren schönen entblößten Kopf mit seinen tausend blonden Locken in die Lehne des riesigen Fauteuils sinken lassen und die Füße vor sich auf ein Taburett gelegt. Das Feuer trocknete die Spritzflecken ihres Reitkleides und ihrer Stiefel. Ihre Wildlederhandschuhe, ihr kleiner Biberhut, ihr grüner Schleier und ihre Reitpeitsche lagen auf der Konsole, auf die sie sie geworfen. Sie blickte bald auf die alte Boulle-Uhr, die auf dem Kaminsims zwischen zwei geblümten Leuchtern stand, um zu sehen, ob die vier Verschwörer nach der Zeit schon im Bett lagen, und bald auf den vor dem Kamin aufgestellten Bostontisch, an dem Herr und Frau von Hauteserre, der Pfarrer von Cinq-Cygne und dessen Schwester saßen.
    Selbst wenn diese Personen nicht mit unserm Drama verknüpft wären, hätten ihre Gesichter doch das Verdienst, die Aristokratie von einer der Seiten darzustellen, die sie seit ihrer Niederlage von 1793 kennzeichneten. In dieser Hinsicht hat die Schilderung des Salons von Cinq-Cygne den Reiz der Geschichte im Negligé.
    Der damals zweiundfünfzigjährige Edelmann, groß, hager und vollblütig, von robuster Gesundheit, hätte als kraftvoll erscheinen können, hätten seine großen fayenceblauen Augen nicht so einfältig dreingeschaut. In seinem Gesicht, das in ein schuhförmiges Kinn auslief, war zwischen Nase und Mund ein nach den Gesetzen der Zeichnung übermäßiger Zwischenraum, der ihm einen unterwürfigen Ausdruck verlieh, der völlig zu seinem Charakter paßte, ebenso wie die geringsten Einzelheiten seiner Physiognomie. So bildete sein graues Haar, das durch den fast den ganzen Tag lang getragenen Hut verfilzt war, gleichsam eine Kappe auf seinem Kopfe und ließ dessen birnenförmigen Umriß hervortreten. Seine Stirn, durch das Landleben und seine beständigen Sorgen stark gerunzelt, war platt und ausdruckslos. Seine Adlernase belebte sein Gesicht etwas; das einzige Anzeichen von Kraft lag in seinen schwarz gebliebenen buschigen Brauen und in seiner lebhaften

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