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Eine dunkle Geschichte (German Edition)

Eine dunkle Geschichte (German Edition)

Titel: Eine dunkle Geschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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bald vor dem Kriminalgericht stattfinden mußte. Aber sie sollte noch einen Schlag erhalten, auf den sie nicht gefaßt war und der ihren Mut schwächte. Inmitten dieses Unglücks und der allgemeinen Entfesselung, in dem Augenblick, wo diese schwergeprüfte Familie sich wie in einer Wüste sah, wuchs vor Laurences Augen plötzlich ein Mann empor und zeigte die ganze Schönheit seines Charakters. Einen Tag, nachdem die Anklage mit der Bestätigungsformel »Ja, es wird stattgegeben«, die der Obmann der Geschworenen unter die Anklageschrift setzte, dem öffentlichen Ankläger zugestellt und der gegen die Angeklagten erlassene Haftbefehl in eine Verfügung zur Untersuchungshaft verwandelt war, kam der alte Marquis von Chargeboeuf seiner jungen Verwandten in seiner alten Kalesche mutig zu Hilfe. In Voraussehung rascher Justiz hatte sich das Haupt dieser großen Familie schleunigst nach Paris begeben und von dort einen der verschlagensten und ehrlichsten Anwälte der alten Zeit namens Bordin mitgebracht, der in Paris zehn Jahre lang der Rechtsbeistand des Adels wurde und dessen Nachfolger der berühmte Advokat Derville war. Dieser würdige Mann erkor zum Advokaten sofort den Enkel eines früheren Präsidenten des Parlamentsgerichts der Normandie, der die Richterlaufbahn einschlagen wollte und seine Studien unter Bordins Obhut gemacht hatte. Der junge Advokat – um eine abgeschaffte Bezeichnung zu gebrauchen, die der Kaiser alsbald wieder einführen sollte – wurde nach diesem Prozeß tatsächlich zum Vertreter des Generalstaatsanwalts von Paris ernannt und ist einer der berühmtesten französischen Richter geworden. Herr von Granville nahm diese Verteidigung als eine Gelegenheit zu einem glänzenden Anfang an. Damals wurden die Advokaten durch Offizialverteidiger ersetzt. Somit war das Recht der Verteidigung nicht beschränkt: alle Staatsbürger konnten die Sache der Unschuldigen vertreten, aber die Angeklagten nahmen sich nichtsdestoweniger frühere Advokaten als Verteidiger. Der alte Marquis war entsetzt über die Verheerungen, die der Schmerz bei Laurence angerichtet hatte, und benahm sich wunderbar feinfühlig und taktvoll gegen sie. Er erinnerte nicht an seine vergeblichen Ratschläge, stellte Bordin als ein Orakel hin, dessen Weisungen buchstäblich befolgt werden müßten, und den jungen Granville als einen Verteidiger, der volles Vertrauen verdiente.
    Laurence reichte dem alten Marquis die Hand und drückte die seine mit einer Lebhaftigkeit, die ihn entzückte.
    »Sie hatten recht«, sagte sie.
    »Wollen Sie jetzt auf meine Ratschläge hören?« fragte er.
    Die junge Gräfin nickte zustimmend, ebenso Herr und Frau von Hauteserre.
    »Wohlan, so kommen Sie in mein Haus. Es liegt im Mittelpunkte der Stadt in der Nähe des Gerichts. Sie und Ihre Anwälte werden dort besser aufgehoben sein als hier, wo Sie dicht auf einandersitzen und viel zu weit vom Schlachtfeld entfernt sind. Sie müßten ja täglich durch die ganze Stadt laufen.«
    Laurence nahm es an. Der Greis brachte sie und Frau von Hauteserre in sein Haus, das während der ganzen Dauer des Prozesses der Wohnsitz der Verteidiger und der Bewohner von Cinq-Cygne blieb. Nach der Mahlzeit ließ Bordin sich bei verschlossenen Türen von Laurence genau alle Umstände der Sache erzählen und bat sie, keine Einzelheit fortzulassen, obwohl der Marquis Bordin und dem jungen Verteidiger schon während der Fahrt von Paris nach Troyes einige der früheren Ereignisse erzählt hatte. Die Füße am Kamin hörte Bordin zu, ohne sich irgendwie wichtig zu machen. Der junge Advokat aber konnte sich nicht enthalten, sich in seine Bewunderung für Fräulein von Cinq-Cygne und die Aufmerksamkeit für die Sache zu teilen.
    »Ist das wirklich alles?« fragte Bordin, als Laurence die Ereignisse des Dramas so erzählt hatte, wie sie bisher in dieser Geschichte dargestellt sind.
    »Ja«, entgegnete sie.
    Ein paar Augenblicke herrschte tiefstes Schweigen in dem Salon des Hauses Chargeboeuf, in dem sich diese Szene abspielte, eine der ernstesten, die im Leben stattfinden, und auch eine der seltensten. Jeder Prozeß wird ja von den Advokaten noch vor den Richtern entschieden, ebenso wie die Ärzte den Tod des Kranken vorausahnen, noch ehe der Kampf des letzteren mit der Natur und der ersteren mit der Justiz beginnt. Laurence, Herr und Frau von Hauteserre und der Marquis hatten ihre Blicke auf das alte, dunkelfarbige und von tiefen Pockennarben entstellte Gesicht des alten Anwalts geheftet,

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