Eine dunkle Geschichte (German Edition)
die dunkelste, die ich je erlebt habe, und doch habe ich so manches entwirrt.«
»Sie ist für jedermann unerklärlich, selbst für uns«, sagte Herr von Granville. »Sind die Angeklagten unschuldig, so ist der Streich von anderen geführt worden. Fünf Personen kommen nicht wie durch Zauberei in eine Gegend, sie verschaffen sich keine Pferde, die wie die der Angeklagten beschlagen sind, machen sich ihnen nicht ähnlich und werfen Malin nicht in eine Grube, lediglich, um Michu und die Herren von Hauteserre und von Simeuse zu verderben. Die Unbekannten, die wahren Schuldigen, hatten irgendein Interesse daran, sich in die Haut der fünf Unschuldigen zu stecken. Um sie aufzufinden, um ihre Spuren zu suchen, müßten wir wie die Regierung ebenso viele Agenten und Augen haben, als es Gemeinden in einem Umkreis von zwanzig Wegstunden gibt...«
»Das ist unmöglich«, sagte Bordin. »Daran darf man nicht mal denken. Seit die menschliche Gesellschaft die Justiz erfunden hat, hat sie noch kein Mittel gefunden, um der angeklagten Unschuld die gleiche Macht zu geben, die dem Richter gegen das Verbrechen zu Gebote steht. Die Justiz ist nicht zweiseitig. Die Verteidigung hat weder Spione noch Polizei; sie verfügt zugunsten ihrer Klienten nicht über die Macht der Gesellschaft. Die Unschuld hat nur Vernunftgründe für sich, und diese Vernunftgründe, die den Richtern Eindruck machen können, sind oft ohnmächtig gegen die voreingenommenen Gemüter der Geschworenen. Das ganze Land ist gegen Sie. Die acht Geschworenen, die die Erhebung der Anklage genehmigt haben, waren Besitzer von Nationalgütern. Unter unsern Urteilsgeschworenen werden wir Leute haben, die wie jene Käufer oder Verkäufer von Nationalgütern oder Beamte sind. Kurz, wir werden eine Jury Malin haben! Daher brauchen wir ein vollständiges Verteidigungssystem; daran halten Sie fest, gehen Sie mit Ihrer Unschuld zugrunde. Sie werden verurteilt werden. Wir werden an den Kassationshof gehen und versuchen, die Sache dort hinzuziehen. Kann ich inzwischen Beweise zu Ihren Gunsten beibringen, so werden Sie ein Gnadengesuch einreichen. Das ist die Anatomie der Sache und meine Meinung. Sollten wir obsiegen (denn vor Gericht ist alles möglich), so wäre es ein Wunder, aber Ihr Advokat ist unter allen, die ich kenne, am meisten befähigt, dies Wunder zu vollbringen, und ich werde ihm helfen.«
»Der Senator muß den Schlüssel zu diesem Rätsel haben,« sagte Herr von Granville, »denn man weiß stets, wer einem nicht wohl will, und aus welchem Grunde. Ich sehe ihn gegen Ende des Winters Paris verlassen, allein und ohne Begleitung nach Gondreville kommen, sich dort mit seinem Notar einschließen und sich gewissermaßen fünf Männern ausliefern, die ihn vergewaltigen.«
»Gewiß,« sagte Bordin, »sein Benehmen ist mindestens ebenso außergewöhnlich wie das unsre; aber wie sollten wir angesichts eines gegen uns aufgebrachten Landes aus Angeklagten zu Anklägern werden? Dazu brauchten wir das Wohlwollen und die Unterstützung der Regierung, und tausendmal mehr Beweise als unter gewöhnlichen Umständen. Ich sehe raffiniertesten Vorbedacht bei unseren unbekannten Gegnern, die das Verhältnis Michus und der Herren von Simeuse zu Malin kennen. Nicht reden! Nicht stehlen! Darin liegt Vorsicht. Ich erkenne unter diesen Masken was ganz andres als Bösewichter... Aber sagen Sie dergleichen den Geschworenen, die man uns geben wird!«
Dieser Scharfblick in Privatangelegenheiten, der manchen Advokaten und Richter so groß macht, erstaunte und verwirrte Laurence; diese entsetzliche Logik krampfte ihr Herz zusammen.
»Auf hundert Kriminalfälle«, sagte Bordin, »kommen nicht zehn, die die Justiz in ihrem ganzen Umfange aufrollt, und wohl in einem guten Drittel der Fälle bleibt das Geheimnis ihr unbekannt. Ihr Fall gehört zu denen, die für die Angeklagten wie für die Ankläger, für die Justiz wie für das Publikum unentzifferbar bleiben. Der Herrscher aber hat mehr zu tun, als den Herren von Simeuse beizuspringen, selbst wenn sie ihn nicht hätten stürzen wollen. Aber wer zum Teufel hat es auf Malin abgesehen? Und was wollte man von ihm ?«
Bordin und Herr von Granville blickten sich an; sie schienen an Laurences Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Diese Geste war für das junge Mädchen einer der brennendsten unter den tausend Schmerzen dieses Prozesses, und sie warf den Verteidigern einen Blick zu, der bei ihnen jeden schlimmen Verdacht tötete.
Am nächsten Tage wurden die
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