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Eine dunkle Geschichte (German Edition)

Eine dunkle Geschichte (German Edition)

Titel: Eine dunkle Geschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Akten den Verteidigern zugestellt, und diese konnten mit den Angeklagten konferieren. Bordin teilte der Familie mit, daß die sechs sich als brave Leute gut gehalten hätten, um einen Berufsausdruck zu gebrauchen.
    »Herr von Granville wird Michu verteidigen«, sagte Bordin.
    »Michu?...« rief Herr von Chargeboeuf aus, den dieser Wechsel erstaunte.
    »Um ihn dreht sich alles, und bei ihm liegt die Gefahr«, entgegnete der alte Anwalt.
    »Wenn er am meisten gefährdet ist, scheint es mir recht und billig!« rief Laurence aus.
    »Wir erkennen Möglichkeiten,« versetzte Herr von Granville, »und wir wollen sie gründlich studieren. Wenn wir sie retten können, so ist es, weil Herr von Hauteserre zu Michu gesagt hat, er solle einen der Pfosten am Zaun des Hohlweges ausbessern, und weil im Walde ein Wolf gesehen worden ist. Denn vor einem Kriminalgericht hängt alles von den Verhandlungen ab, und die werden sich um Kleinigkeiten drehen, die, wie Sie sehen werden, riesengroß werden.«
    Laurence verfiel in die innere Niedergeschlagenheit, die die Seele aller Tatmenschen und Denker quälen muß, wenn die Vergeblichkeit alles Tuns und Denkens ihnen bewiesen wird. Hier ging es nicht mehr darum, mit Hilfe ergebener Leute und fanatischer Sympathien, die in geheimnisvolles Dunkel gehüllt sind, einen Mann oder eine Macht zu stürzen; sie sah die ganze Gesellschaft gegen sich und gegen ihre Vettern bewaffnet. Man stürmt nicht ganz allein ein Gefängnis und befreit keine Gefangenen mitten aus einer feindlichen Bevölkerung und unter den Augen einer Polizei, die durch die angebliche Verwegenheit des Angeklagten wachsam geworden ist. Als daher der junge Verteidiger, erschreckt durch die dumpfe Bestürzung dieses edlen und hochherzigen Mädchens, die durch ihre Gesichtszüge noch stumpfsinniger erschien, ihren Mut zu heben suchte, antwortete sie ihm:
    »Ich schweige, ich leide und warte ab...«
    Tonfall, Gebärde und Blick gaben dieser Antwort eine Erhabenheit, der nur ein großer Schauplatz fehlte, um berühmt zu werden. Nach ein paar Augenblicken sagte der biedere Hauteserre zu dem Marquis von Chargeboeuf:
    »Was für Mühe hab' ich mir für meine zwei unglücklichen Kinder gegeben! Ich habe schon fast achthunderttausend Franken in Staatspapieren für sie zusammengebracht. Hätten sie dienen wollen, sie wären in höhere Stellungen gekommen und könnten sich heute vorteilhaft verheiraten. Und so werden alle meine Pläne zu Wasser!«
    »Wie kannst du an ihre Interessen denken,« sagte seine Frau zu ihm, »wo es um ihre Ehre und um ihren Kopf geht!«
    »Herr von Hauteserre denkt eben an alles«, begütigte der Marquis.
    Während die Bewohner von Cinq-Cygne die Eröffnung der Verhandlungen vor dem Kriminalgericht erwarteten und um die Erlaubnis baten, die Gefangenen besuchen zu dürfen, ohne daß sie ihnen gewährt ward, ging im Schlosse in tiefster Heimlichkeit ein Ereignis von größtem Belang vor. Martha war sofort nach ihrer Vernehmung vor den Geschworenen nach Cinq-Cygne zurückgekehrt. Diese Vernehmung war so ergebnislos gewesen, daß der öffentliche Ankläger sie nicht mal vor das Kriminalgericht lud. Wie alle übermäßig empfindsamen Menschen blieb die arme Frau in einem Zustand erbarmungswürdiger Stumpfheit in dem Salon sitzen, wo sie Fräulein Goujet Gesellschaft leistete. Für sie wie übrigens auch für den Pfarrer und für alle, die nicht wußten, wie die Angeklagten ihren Tag verbracht hatten, war deren Unschuld fragwürdig. Bisweilen glaubte Martha, daß Michu, ihre Herren und Laurence irgendeine Rache an dem Senator verübt hätten. Kannte die unglückliche Frau doch Michus Ergebenheit hinreichend, um zu begreifen, daß er von allen Angeklagten am meisten in Gefahr war, sei es wegen seines Vorlebens oder wegen seines Anteils an der Ausführung. Der Abbé Goujet, seine Schwester und Martha verloren sich in Mutmaßungen, zu denen diese Meinung Anlaß gab, aber je mehr sie darüber nachgrübelten, deuteten sie sich die Sache verschieden. Der völlige Zweifel, wie ihn Descartes fordert, ist für das menschliche Gehirn ebensowenig erreichbar wie die Leere in der Natur, und der geistige Vorgang, durch den er entstehen könnte, wäre wie die Wirkung der Luftpumpe ein außergewöhnlicher, monströser Zustand. Um was es sich auch handeln mag, man glaubt stets an etwas. Nun aber hatte Martha solche Angst vor der Schuld der Angeklagten, daß ihre Furcht dem Glauben gleichkam, und diese Geistesverfassung wurde ihr zum

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