Eine dunkle & grimmige Geschichte
also«, fuhr der Rabe fort, »die Hochzeit deiner Eltern war von Anfang an verflucht.«
»Wir drei wissen alles über das Schicksal«, unterbrach der zweite Rabe.
»Darauf haben wir uns spezialisiert«, sagte der dritte.
»Aber was sie mit euch Kindern gemacht haben ...«, begann der erste Rabe.
»… übersteigt allerdings das Ausmaß des Fluchs, würde ich sagen«, beendete der zweite.
Der dritte Rabe fügte hinzu. »Aber was passiert ist, ist sicherlich nicht deine Schuld.«
»Wahrscheinlich ist es unsere Schuld«, sagte der erste Rabe großherzig. »Hätten wir unsere schwarzen Schnäbel gehalten, dann wäre das alles nicht passiert.«
Gretel legte nachdenklich den Finger an ihr Kinn. »Weil dann meine Eltern gestorben wären, bevor Hänsel und ich geboren wurden?«
»Genau!«
»Das erscheint mir nicht unbedingt besser«, gab Gretel zu bedenken.
»Hmmm«, sagte der erste Rabe. »Ich glaube, da hast du recht.«
»Nein«, sagte Gretel. »Es ist meine Schuld. Wenn Hänsel und ich nicht von zu Hause weggerannt wären, dann wäre er jetzt nicht tot. Und wir hätten nie die Bäckersfrau getötet und der Vater hätte seine Söhne nie in Schwalben verwandelt und ...«
Der dritte Rabe unterbrach sie. »Erinnerst du dich daran, warum ihr weggerannt seid, Gretel?«
Sie blickte in seine schwarzen Augen und nickte.
Er sagte: »Das scheint mir ein ziemlich guter Grund zu sein.«
Gretel starrte hinter die drei Raben aus dem Fenster, auf die roten und orangefarbenen Blätter, die von den Ästen baumelten wie Tränen. Nach einer Weile sagte der dritte Rabe: »Wir sollten jetzt besser gehen. Wir müssen noch ein wenig herumfliegen und Leuten ihr Schicksal vorhersagen.«
»Können wir dir noch irgendwelche andere Fragen beantworten?«, krächzte der zweite Rabe.
»Ist es wirklich nicht meine Schuld?«, fragte Gretel.
»Wir sagen immer die Wahrheit«, antwortete der erste Rabe. »Deshalb kann es gar nicht deine Schuld sein.« Undmit diesen Worten hoben die drei Raben ihre Flügel und flogen durch das offene Fenster hinaus.
Gretel lies sich auf ihr Bett zurückfallen.
Es war nicht ihre Schuld.
Plötzlich hatte sie das Verlangen, all die Traurigkeit, die sie belastete, zu packen und wegzuschleudern – denen entgegen, die sie verursacht hatten. Sie wollte, dass sie den Schmerz spürten und wussten, wie er sich anfühlte. Damit sie verstanden.
Langsam griff sie in ihre Tasche und schloss ihre Finger um etwas schmales, kaltes, das langsam blau wurde.
Am nächsten Tag war das ganze Dorf voller Fröhlichkeit. Die Tische waren mit Brot, Bier und Apfelwein gedeckt und mit Erntekörben, Herbstblättern und anderen Zeichen des Erntedankfestes dekoriert. Die Nachbarn sprachen glücklich über das kalte, klare Wetter, und kleine Atemwolken bildeten sich vor ihren Mündern. Rauch stieg von den Schornsteinen auf, und der Geruch von gebratenen Würstchen und reifen Äpfeln lag in der Luft.
Der schöne junge Mann stand mit den anderen Männern zusammen, trank Bier aus einem großen Becher und lachte über dies und das. Kinder rannten hin und her. Bald waren die Würstchen fertig und übervolle Teller wurden zu den Tischen gebracht. Gretel trat schweigend aus dem Haus der Witwe, ihre Hände tief in den Taschen ihres Kleides vergraben.
Jeder ging zu seinem Tisch und der Bürgermeister hielt eine kurze Rede. Einige der älteren Männer sagten auchein paar Worte. Dann stand der schöne junge Mann auf, hob sein Glas in Richtung der Frauen und sagte, dass sie so wunderschön seien wie jede Frau auf der Welt. Die Männer klatschen laut Beifall und die Frauen erröteten und lächelten.
Und dann erhob sich zur allgemeinen Überraschung Gretel.
»Kann ich etwas sagen?«, fragte sie ängstlich. Sogar stehend war sie kleiner als die meisten sitzenden Erwachsenen.
»Stell dich auf einen Stuhl, Kleine«, sagte einer der Dorfbewohner. Also stellte sich Gretel auf einen Stuhl.
»Ich möchte euch etwas erzählen …«, begann sie. Aber dann hörte sie auf zu sprechen. Sie sah den schönen jungen Mann an. Er lächelte Gretel an. Doch sie blickte auf seine Hände – Hände, die einem jungen Mädchen die Seele entreißen konnten.
»Ich möchte euch einen Traum erzählen«, sagte Gretel. »Einen Traum, den ich hatte.«
Die Dorfbewohner murmelten anerkennend. Früher dachte man, dass Träume geheime Wahrheiten enthielten.
»Ich träumte, dass ich in den Schwarzen Wald ging«, sagte sie. »Aber als ich so lief und der Regen auf mein
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