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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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verging kein Moment, an dem er sich nicht fragte, was aus Gretel geworden war. Er fühlte sich schrecklich und schämte sich sehr für sein Verhalten im Lebenswald. Sie war so gut zu ihm gewesen und er hatte sich so egoistisch und unverantwortlich verhalten. Ihm wurde ganz schlecht, wenn er daran dachte.
    Vor lauter Scham konnte er nicht schlafen. In jeder Nacht war er unruhig, lag wach und starrte in die Dunkelheit. Am Morgen stand er auf und lief durch das Gutshaus wie ein Geist.
    Wo war Gretel? Was war mit ihr passiert? Er hatte Angst,dass ihr etwas Schreckliches geschehen war. Und es war seine Schuld. Er wollte schreien. Wie könnte sie ihm jemals vergeben? Er war gefangen in einem Teufelskreis und wusste nicht, wie er ihm entrinnen sollte.
    In einer Nacht, in der er sich schweißgebadet im Bett herumwälzte, dachte Hänsel: Ich werde nie wieder so etwas tun. Ich werde Gretel finden und alles wiedergutmachen. Ich trage die Verantwortung für mein Handeln. Ich werde gut sein. Ich schwöre es.
    Und weil er es so unbedingt wollte, war er auch gut.
    Und es ging ihm besser.
    Sag es lieber nicht, lieber Leser. Ich weiß, es erscheint dir unwahrscheinlich. Und natürlich ist es das. Wenn du so etwas noch nie selber durchgemacht hast, dann mag es lächerlich wirken. Er wollte gut sein, also war er es auch? Einfach so?
    Ja, einfach so. Es gibt eine Art von Schmerz, der dich verändern kann. Sogar das stärkste Schwert wird im Feuer weich und biegt sich. Genauso war es mit Hänsel. Sein Schuld- und Schamgefühl brannte so heiß wie Feuer.
    Vertrau mir, was das angeht. Ich habe diese Erfahrung selber schon gemacht. Ich hoffe, du wirst das nie durchmachen. Aber da du ein menschliches Wesen bist und deshalb vielleicht eines Tages furchtbare Fehler machen wirst, ist es wahrscheinlich, dass es doch passiert. Und wenn es so weit kommt, dann hoffe ich, dass du so viel Kraft wie Hänsel aufbrin gen wirst und das Feuer nutzt, um dein Schwert neu zu formen.
    Nachdem Hänsel geschworen hatte, sich zum Guten zu wandeln, wurde sein Leben erträglich. Der adelige Herr und die adelige Dame waren gute Eltern. Sie sorgten sich um Hänsel, waren nett zu ihm und gaben ihm reichlich zu essen. Sie hatten eine wundervolle Bücherei, und Hänsel genoss es, sich dort aufzuhalten und Bücher über Ritter und Hofdamen, Drachen und Riesen zu lesen. Er wusste, dass er nicht für immer auf dem Landsitz bleiben konnte, denn er musste Gretel finden. Aber bis er sich erholt hatte, war er glücklich, bei den beiden Erwachsenen zu bleiben. Sie schienen in Ordnung zu sein.
    Es macht mich tieftraurig, das zu sagen. Ist jemals alles in Ordnung mit den Erwachsenen? In Geschichten wie diesen sicher nicht.
    Vielleicht gibt es im echten Leben perfekte Eltern und fantastische Erwachsene, die dich nie enttäuschen werden. Aber es war einmal eine Zeit, da waren Erwachsene nicht perfekt. Das hast du, mein lieber Leser, sicher schon verstanden.
    Der adelige Herr und die adelige Dame waren natürlich nicht perfekt. Manchmal war die Dame aufbrausend. Und der Herr hatte meistens schlecht riechenden Atem.
    Aber viel schlimmer war, dass der Lord ein Geheimnis hatte, ein Geheimnis, das er sogar vor seiner Frau geheimhielt. Es war kein schreckliches Geheimnis, nichts Grausames oder Böses. Er hatte eine geheime Schwäche, die er nicht kontrollieren konnte. Der Lord war ein Spieler.
    Tagsüber unterdrückte er seine Schwäche, aber in der Nacht brach ihm der kalte Schweiß aus, und er konnte nicht anders, als das Gold seiner Frau zu nehmen und sich durch die Hintertür einer Bierschänke zu schleichen, um Karten zu spielen. Manchmal gewann er, aber meistens verlor er. Aber er hatte noch nie so viel verloren, dass seine Frau am nächsten Morgen gemerkt hatte, dass etwas fehlte.
    Doch eines Tages nahm ein Fremder an dem Spiel teil. Seine Haut sah im schummrigen Licht des Hinterzimmers fast rot aus und sein Bart lief unter dem Kinn spitz zu. Er wettete mit dem Lord und er gewann. Er gewann wieder und wieder. Der Lord wusste, dass er gehen sollte, da er schon alles verloren hatte. Aber er wusste, dass seine Frau am Morgen sein Geheimnis entdecken würde, wenn er ganz ohne Gold nach Hause kam. Er schämte sich. Er fragte den bärtigen Fremden, ob er seinen Einsatz zurückgewinnen könne. Der Fremde sagte, dass das schon ginge, aber er müsse auf das wetten, was in dieser Nacht vor dem Kamin in seiner Bücherei stand. Dem Mann fiel nur der feine Mahagonistuhl ein, der vor dem Kamin

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