Eine Ehe in Briefen
aufgrund des Krieges allerorten eine düstere Stimmung zu spüren, als ob etwas Unausgesprochenes, Unklares inder Luft liege. Die Fuhrleute glauben, wie auch die Bauern, unerschütterlich an den russischen Sieg.
Nun also, lebe wohl, liebster Freund, ich küsse Dich und Sascha und grüße alle.
S. Tolstaja.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[14. August 1904]
[Pirogowo]
Ich werde noch zwei oder drei Tage hierbleiben, liebe Sonja. Ich weiß selbst nicht, wie lange. Ich möchte noch nicht abreisen, denn es scheint mir, ich könnte Sergej im Wichtigsten, in seiner seelischen Not, hilfreich sein, doch zugleich ist das Beisammensein mit ihm und die Erkenntnis, ihm nicht helfen zu können, sehr schwer 38 . Die Pferde schicke ich zurück, denn Mascha 39 hat versprochen, mich zurückbringen zu lassen. [...]
Sein Zustand ist schrecklich, da er ihn nicht erkennt oder nicht erkennen will, immerfort ungehalten und launisch ist und nichts als leidet. Er ist sehr schwach, wankt beim Gehen, zieht sich aber doch an und geht herum.
Richte doch bitte Julia Iwanowna aus, Tschertkow habe geschrieben, daß er alle Artikel, die sie ihm geschickt hat, erhalten habe, das Vorwort zum Aufsatz über die Revolution 40 allerdings nicht dabei war. Offensichtlich wurde es beschlagnahmt. Ich bitte sie, es noch einmal per Einschreiben abzusenden.
Lebe wohl, ich küsse Dich.
Ich hatte starkes Sodbrennen, nun ist es wieder besser, das Wetter ist herrlich.
L.T.
Ich habe mein Tagebuch auf dem Schreibtisch vergessen, nehme es an Dich.
Ich bin immer noch mit dem Kalender 41 beschäftigt. Es ist eine leichte und angenehme Arbeit.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
17. August 1904, des Nachts.
[Jasnaja Poljana]
Es scheint, Du wartest auf Briefe von mir, lieber Ljowotschka, und ich, so scheint es, erwarte Dich zurück, denn Du schriebst, Du kämest am 14. oder 15. [...], doch Du kommst wohl nicht, was vielleicht auch besser ist, denn in Deinem Zimmer mußte der Ofen abgetragen werden, und die Arbeiten sind wohl nicht bald beendet. [...] Wir haben immerfort Gäste, gestern waren die Goldenweisers hier, wir saßen beim Sonnenuntergang auf dem Balkon und sprachen über Unsterblichkeit und ewiges Leben, danach spielte er eine Beethoven-Sonate für uns. Und heute abend kam plötzlich Ilja mit zwei Bekannten. Sie waren laut und fröhlich, und ich wurde immer trauriger. Balalaika, Gitarre, Gesang und Späße – dafür bin ich wohl nun schon zu alt.
Ich gehe täglich allein zur Woronka und schwimme im eiskalten Wasser, auf dem Weg sammle ich Pilze, derer es nur noch wenige gibt. – Gestern habe ich eine Leinwand gespannt und beginne morgen mit der Kopie des Kramskoj-Portraits.
Von Andrjuscha kam ein allzu heiterer Brief aus Ufa 42 . Er ist sehr bemüht, weder nach vorn noch zurück zu blicken. Mir gegenüber ist der Brief von Zärtlichkeit erfüllt. Von Dora kam ein düsterer Brief, in Schweden ist es kalt und regnerisch [...]. Lina und ihre Kinder sind mir immer noch angenehm und lieb, Mischa ist auf sein Gut gereist. Olga ist zurückhaltend und hat die ganzen Tage sehr fleißig an Deinem Kalender gearbeitet.
Sergej Nikolajewitsch dauert mich sehr, und Du dauerst mich, da Du sein körperliches und seelisches Leiden mitansehen mußt. Es ist sehr richtig, was Du sagst, nämlich daß es schwer ist, die Machtlosigkeit zu spüren und die Unmöglichkeit, sein Leiden etwas erträglicher zu machen. Ich küsse Dich und grüße Mascha und Kolja. Und wenn ich mir auch Sorgen mache,wie Du Dich hier ohne Dein Schlafzimmer einrichten wirst, werde ich doch glücklich sein, wenn Du zurückkehrst.
Achte auf Deine Gesundheit.
Deine Sonja Tolstaja.
1905
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
15. Januar 1905
[Moskau]
In Moskau ist alles ruhig, lieber Ljowotschka. Ein paar Fabriken wurden bestreikt, doch auch dort wird wieder gearbeitet 43 . Bachruschin 44 und Morosow haben den Arbeitern gesagt, für die versäumten Tage werde ihnen der Lohn nicht abgezogen, sie bekamen ein schlechtes Gewissen und gingen wieder an die Arbeit 45 . [...] Serjosha scheint guter Stimmung zu sein, er ging zum Essen bei Maklakow, ich gehe heute abend ins Konzert.
Ich war in der Bank, habe Dunajew dort getroffen, er fährt heute zur Erholung aufs Land, die Ereignisse in Petersburg belasten ihn sehr und bereiten ihm Sorge. Ich fühle mich recht gut, obgleich etwas verzagt. Niemand kann in den heutigen Zeiten mehr
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