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Eine Ehe in Briefen

Eine Ehe in Briefen

Titel: Eine Ehe in Briefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja , Lew Tolstoj
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die Ergebenheit gegen seine Herrscher.« [...]
    Dieser Tage habe ich einen Brief an die englischen Zeitungen geschrieben, worin ich darlegte, daß es nicht das Ziel des Christentums sei, die bestehende Ordnung zu zerstören und sie durch eine andere zu ersetzen. Sein Ziel sei einzig die Errettung der Menschen. [...] Meine Interpretation des Glaubens habe ich erst einmal beiseite gelegt. Am liebsten möchte ich noch einmal von vorn beginnen und alles anders darlegen. Seit drei Tagen habe ich keine Briefe erhalten, vermutlich werden sie noch [von den Sicherheitsbehörden] gelesen. Mir geht es körperlich und seelisch sehr gut. Den Mädchen, so glaube ich, ebenfalls. Dich, Sonja, liebe ich sehr, wie die gesamte letzte Zeit. Ich schreibe diesen Brief an Dich und Ljowa zugleich. Ich küsse Ljowa und hoffe, ihn bald wiederzusehen.
    [Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
    [27. Oktober 1894]
    [Moskau]
    Dein gestriger Brief, liebster Freund Ljowotschka, hat mich sehr beruhigt, denn gerade gestern war mir alles sehr schwer. Die Feindseligkeit Ljowas gegen mich wird immer größer, und sie ist so unverständlich, niemand wäre imstande, ihre Ursache zu ergründen. Selbst das, was er ihn mit Sorgen und Zärtlichkeit bedrängen nennt, habe ich in letzter Zeit ganz und gar gelassen. [...] Der Arme ist so sehr mit seinem Leiden beschäftigt, daß er seine einstige Empfindsamkeit gegen andere ganz und gar verloren hat. [...]
    Ich habe Mascha lange nicht geschrieben, doch ich denke immerfort zärtlich an sie und daran, wie liebenswert, munter, ja fröhlich gar – überhaupt nicht leidend und unglücklich – sie in der letzten Zeit zu sein schien, was mich stets glücklich macht. Was macht Tanjas Spiel auf der Mandoline? [...]
    Pawel Petrowitsch, mein Gehilfe und die Njanja hinterbringen uns die mannigfaltigsten unglaublichen Gerüchte, wie zum Beispiel, Sacharin habe sich vergiftet, dies bedeute, er sei schuldig und habe den Zar vergiftet, und alle Fenster seines Hauses seien kaputtgeworfen worden. Zugleich berichten die Rajewskis, Klein (ein Moskauer Professor) habe den Regenten obduziert und ebenjenes, was Sacharin diagnostiziert habe, bestätigt gefunden: Verfettung, oder besser durch Fett bedingte Anomalie des Herzens; die Nieren gesund, nur ein wenig geschrumpft. – Heute berichtete Warinka noch, in der Universität hätten zahlreiche Studenten aus religiösen Motiven heraus den Treueeid verweigert, dies werde totgeschwiegen; die Studenten würden wohl der Universität verwiesen. Und jemand, ich weiß nicht mehr wer, erzählte, Du, Ljowotschka, hättest ein Manifest verfaßt und dies hier in unserem Haus verlesen. Eine erregte Stimmung ist zu spüren; wie immer wird von der Herrschaft des neuen Zaren viel erwartet, und womöglich wird sich dies alles nicht bald beruhigen. 110
    Für Samstag wird die Ankunft des Leichnams des Zaren erwartet. Allerorten zieht die Armee auf, überall stehen Wachen, die Stadttore und Kirchen, die Herrschaftshäuser – alles wird verstärkt bewacht. Vor wem soll dies alles beschützt werden? Ich glaube, es käme niemandem in den Sinn, den Leichnam des Zaren zu entehren, wenn man ihn nicht durch die verstärkten Truppen und Wachen erst auf solcherlei Gedanken brächte. [...]
    Ljowotschka, ich bitte Dich, wenngleich dies vielleicht auch überflüssig ist, schreibe in der jetzigen Lage keine Briefe bezüglich der Herrschaft des neuen Zaren an englische, amerikanischeoder sonstige ausländische Zeitungen. Ich weiß, daß Deine Gedanken und Handlungen stets im reinen Christentum begründet sind; doch im Moment wird man jeden Anlaß nutzen, über jedes Deiner Worte herzufallen und alles auf infame Weise zu interpretieren (wie vor zwei Jahren die »Moskowskije wedomosti«). Der dahingegangene Zar kannte Dich und hatte Verständnis für Dich, dies habe ich gefühlt, der neue aber – Gott weiß, wie er handeln wird!
    Es tut mir sehr leid, daß Du mit Deiner Arbeit wieder unzufrieden bist und erneut alles von neuem anzufangen gedenkst. Dies muß doch überaus schwer sein. Vielleicht aber will Gott diese Arbeit ja auch nicht, und deshalb kannst Du Dich nicht für sie erwärmen und sie nicht fertigstellen. Vielleicht werden Deine geistigen Kräfte für etwas anderes gebraucht. Es ist schön, daß Du gesund und guter Stimmung bist; ich habe vergessen, wie beides sich anfühlt.
    Lebe wohl, liebster Freund, sei bedankt, daß Du mich wenigstens auf meine alten Tage mit den Worten, Du liebtest

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