umbenannt worden war. «Es ist allgemein bekannt, daß er selbst das Oberkommando übernehmen will. Und wenn er die Stadt erst einmal verlassen hat... nun, ich glaube, dann wird der Aufstand bald losbrechen.»
Giles nickte zustimmend. «Eine gute Zusammenfassung der Lage. Doch niemand wird uns glauben. Daher müssen zumindest wir vorbereitet sein. Ich persönlich fürchte, daß die große Revolution nicht nur Rußland in den Abgrund stürzen wird, sondern ganz Europa. Es wird viel zu tun geben, wenn wir wieder nach London zurückkehren, aber ab Ende Januar wirst du nur noch zweimal wöchentlich ins Büro kommen.»
Roy hob fragend die Augenbrauen.
«Keine Angst, du wirst nicht untätig sein. Du wirst an den anderen Tagen Russisch lernen und dich mit russischer Folklore, Kunst, Kultur und Geschichte vertraut machen - ganz zu schweigen von der Art und Weise, wie man in diesem Land herumkommt.»
«Soll ich nach Rußland fahren?»
«Wenn die Zeit reif ist, vermutlich ja. Jedenfalls verlier diese Möglichkeit nicht aus dem Auge. Ich will, daß du wie ein Moskowiter sprichst, die Sitten und das Protokoll wie ein Diplomat kennst und die Folklore wie ein Bauer.»
«Ich verstehe.»
Sein Großvater zweifelte keine Minute daran, daß Roy ihn sehr gut verstanden hatte.
Als Giles wieder allein war, wandten seine Gedanken sich erneut den Problemen zu, die ihn während der ganzen Weihnachtswoche gequält hatten. Er rief sich noch einmal jedes Wort ins Gedächtnis zurück, das er unter härtestem Druck Madeline Drew entrungen hatte.
Giles, der die übelsten Verhörtricks kannte, hatte nicht erwartet, daß die junge Frau ihm viel Neues über den deutschen militärischen Geheimdienst erzählen könnte. Diese Aufgabe hatte Charles schon bestens gelöst. Aber es gab andere Möglichkeiten, bei denen Madeline Drew von Nutzen sein könnte. Giles’ verschlagener Verstand spielte mit dem Gedanken, einen deutschen Geheimdienstler bloßzustellen. Er suchte nach einer schwachen Stelle in Walter Nicolais Organisation.
Madeline, die von den besten Geheimdienstlern in Berlin ausgebildet worden war, mußte viel über deren Privatleben wissen. Wer hatte eine Geliebte? Wußten die Ehefrauen davon? Wer hatte abwegige sexuelle Neigungen? Wer fühlte sich zu Jungen oder Männern hingezogen? Wer hatte seltsame Angewohnheiten? Wer machte Schulden? Wer hütete ein Geheimnis, das nicht an die Öffentlichkeit dringen durfte?
Dies waren Dinge, die er erfahren wollte, um sie an James weiterzugeben, bevor er nach Berlin fuhr, um nach Marie zu suchen. Wenn jemand solche Dinge wußte, dann eine Frau wie Madeline Drew, vermutete Giles.
Das Verhör, das Madeline als weinendes Wrack zurückgelassen und sechs Stunden gedauert hatte, begann harmlos, steigerte sich aber allmählich zu einer grauenvollen Tortur voller Drohungen und Beschimpfungen.
Innerhalb von zwei Stunden hatte Giles herausgefunden, daß diese goldblonde, unschuldig aussehende junge Frau, die ihn anfangs so treuherzig angeblickt hatte, mit vielen der hochrangigen Geheimdienstler in Berlin sexuelle Beziehungen gehabt hatte. Nachdem er dies festgestellt hatte, brach er langsam ihren Widerstand und lockte jedes Geheimnis ihres privaten Lebens aus ihr heraus.
Aber erst während der letzten Stunde ließ Madeline durchblicken, daß sie auch ein Verhältnis mit Charles habe.
Giles verbrachte den größten Teil seiner Weihnachtsferien damit, sich zu einem Entschluß durchzuringen, wie er die allgemeinen Informationen über Berlin am besten auswerten könne und was er hinsichtlich der verhängnisvollen Affäre von Charles und Madeline unternehmen solle.
An diesem Abend, am Ende des Essens, kam Porter hereingeschlurft, um zu sagen, daß ein Herr dringend Charles zu sehen wünsche.
Es war Brian Wood. Er entschuldigte sich wegen der Störung, sagte aber, es sei dringend. Mr. Kell hätte darauf bestanden, daß Charles sofort mit ihm nach London käme.
«Was zum Teufel ist los?» fragte Charles.
«Die
, Sir. Sie droht auszusteigen, wenn sie Sie nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden sieht. Irgend etwas Entscheidendes ist passiert, und sie will mit niemand außer Ihnen reden.»
Charles fuhr sogleich nach London, sprach kurz mit Madeline und meldete sich dann bei Vernon Kell.
«Sie ist zurückbeordert worden», berichtete er dem Direktor des MO5. «Wir haben höchstens zehn Tage, um sie von loszueisen, oder wir müssen sie gehen lassen.»
Kell schwieg volle fünf