Eine ehrbare Familie
war das einzige Familienmitglied, das mit dieser geheimen Tätigkeit nichts zu tun hatte. Aber nun, am zweiten Weihnachtsfeiertag, wurde er von Phoebe in des Generals Arbeitszimmer gebracht.
«Du wolltest mich sehen, Großvater.»
Giles blickte auf, musterte kurz den jungen Offizier in seinem Rollstuhl und dann Phoebe. Sie lächelte und zog sich auf seinen wortlosen Befehl hin zurück.
«Ja, ich wollte dich sehen. Hast du nachgedacht über die Sache, über die wir im Krankenhaus gesprochen haben?»
«Du meinst diesen Geheimkram?»
«Ja, den meine ich.»
«Ich will Deutsche töten. Mein ist die Rache.»
«Auf dem Schlachtfeld wirst du es nicht mehr können, aber warum nicht aus der Ferne?»
«Was kann ich schon tun?»
«Eine Menge.» Giles lehnte sich vor, als wolle er den jungen Mann ins Vertrauen ziehen. «Der Chef des Geheimdienstes hat auch ein Bein verloren. Du wirst dich gut mit ihm verstehen. Und er braucht einen klugen Kopf mit militärischer Erfahrung. Ich wollte dich als seinen Adjutanten vorschlagen.»
«Und was hätte ich als solcher zu tun?»
Giles schwieg eine Weile, dann senkte er die Stimme - ein alter Schauspielertrick -, um Aufmerksamkeit zu erregen und den geheimen Charakter des Gesprächs zu unterstreichen. Giles war ein schlauer, alter Schauspieler. «Was ich sage, muß in diesen vier Wänden bleiben.»
«Natürlich.»
Giles erklärte ihm, daß sich seiner Meinung nach die Militärs und die Politiker in der augenblicklichen Sackgasse bald in die Haare kriegen würden. «Zwei verschiedene Denkweisen werden aufeinanderprallen. Die einen werden für einen Zermürbungskrieg plädieren, Schützengraben gegen Schützengraben. Die größte Belagerung, die Europa je gesehen hat. Die anderen werden die Schützengräben umgehen wollen - eine Art von Durchbruch von hinten und keinen Frontalangriff. Einen Durchbruch, der die Frontlinie umgeht.»
«Und?»
«Beide Parteien werden lange brauchen, bis sie den wesentlichen Punkt dieses Krieges verstehen. Zum Schluß wird alles nur noch vom Nachschub abhängen.»
Er erklärte Caspar das Spionagenetzwerk, das er hinter den feindlichen Linien aufgebaut hatte, um alle feindlichen Truppenbewegungen auszukundschaften. «Du wärst eine große Hilfe für uns, wenn du alle diese Berichte vergleichen könntest. Das wäre doch ein Anfang, nicht wahr? Aber natürlich mußt du dich erst mal erholen.»
Eine lange Pause folgte, die nur vom Knacken des Holzfeuers unterbrochen wurde. «Großvater, wenn ich halbwegs wiederhergestellt bin, will ich es probeweise versuchen. Es klingt interessant, aber ich muß Resultate sehen, bevor ich zufrieden bin.»
Ein winziges Stück Eis schmolz in Giles Railtons Seele.
Wie Sara zu Dick Farthing einmal bemerkt hatte, war Roy Railton der bei weitem brillanteste der Familie. Aber er war sehr geschickt im Verbergen dieser Tatsache, weshalb man ihn oft für schüchtern hielt.
Im übrigen besaß er die seltene Gabe der völligen Unauffälligkeit. Er war ein junger Mann, der lieber zuhörte und beobachtete, statt sich in Gespräche einzumischen, und diese Schweigsamkeit wirkte wie eine Art Tarnkappe.
Als Porter ihn am späten Nachmittag des zweiten Weihnachtstags aufstöberte, war er im Geist weit von seiner Familie entfernt; seine ganze Aufmerksamkeit war von Gibbons «Aufstieg und Fall des Römischen Reichs» in Anspruch genommen. Trotzdem hätte er ohne weiteres sagen können, wo sich jedes einzelne Familienmitglied im Moment aufhielt. Er war daher nicht erstaunt über die Aufforderung, sich zu seinem Großvater ins Arbeitszimmer des Generals zu begeben.
«Bevor wir uns wieder im Büro treffen», begann Giles, «möchte ich ein kurzes Privatgespräch mit dir führen.»
Roy wartete.
«Rußland», sagte Giles langsam. «Was hältst du von Rußland, Roy?»
Der junge Mann verlor nie viele Worte. «Aufruhr, Schwierigkeiten, drohendes Chaos. Der größte, interne Machtkampf in Europa seit Attila. Die Revolutionäre haben eine Niederlage einstecken müssen, aber sie werden es dabei nicht belassen. Und das nächste Mal werden sie siegen.»
«Ja.»
Roy zuckte entschuldigend die Achseln. «Was kann ich mehr sagen, Großvater? Unsere eigenen Politiker erkennen die Gefahr nicht.»
Er stockte, als wollte er eine Prophezeiung aussprechen, für die er eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden könnte. «Der Zar will St. Petersburg verlassen.» Er benutzte aus Gewohnheit noch die alte Bezeichnung, obwohl die Stadt in Petrograd
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