Eine ehrbare Familie
kalten und dunstigen Abend hüpfte beim Anblick der Linden Gustav Frankes Herz vor Freude. Die hohen Gebäude und die Läden waren genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Und nun stiegen noch andere, halbvergessene Bilder aus seinem Gedächtnis auf: Tante Irmas Haus in der Nähe des Tiergartens, die eleganten Damen und Herren, die auf der Siegesallee flanierten, das große Marmordenkmal von Friedrich Wilhelm III., zu dem er sonntags mit Großvater Franke von ihrem Haus in Wilmersdorf immer gepilgert war.
Vor seinem geistigen Auge sah er ganz deutlich das Haus mit den schweren Mahagonimöbeln und den roten Samtvorhängen vor sich. Ihm fielen wieder seine Zinnsoldaten ein, Grenadiere in schmucken roten Jacken, angeführt von einem Offizier auf einem Rappen.
James Railton hatte tatsächlich den Eindruck, als seien diese Dinge Teil seiner Kindheit. Die Professoren in Oxford hatten gute Arbeit geleistet.
Er empfand keine Angst, sich mitten im Feindesland zu bewegen. << Seien Sie Gustav Franke», hatten die Professoren ihm eingebleut. «Seien Sie ein Deutscher mit einer Vergangenheit, einer Gegenwart und einer Zukunft. Schlüpfen Sie in seine Haut. Tun Sie, was er tun würde. Betrachten Sie Ihren Auftrag als Sinnestäuschung.»
Das Minerva war ein gut geführtes, erstklassiges Hotel. Selbst zu dieser frühen Morgenstunde, er war um sieben Uhr früh angekommen, waren schon mehrere Gäste in der Halle. Viele trugen Uniform. Nur gelegentlich schlich sich die Wirklichkeit in seine Gedanken ein: ein blitzartiges Aufleuchten von Margarets Gesicht, ein Geräusch auf der Straße, das ihn an London erinnerte.
Er nahm ein Bad, rasierte sich und zog sich um. Man hatte ihm drei Adressen mitgegeben, zwei von Leuten, die zwar keine aktiven Agenten waren, aber von denen man wußte, daß sie England Sympathien entgegenbrachten. Und als dritte das Haus in der Courbierrestraße 8, wo der deutsche Geheimdienst den größten Teil seiner Arbeit erledigte. James hatte aber noch einen anderen Namen bei sich, den von Major Joseph Sterkel, dem kritischen Offizier, mit dem er sich kurz in Friedrichshafen unterhalten hatte.
Um zehn Uhr, nachdem er sich aufgefrischt und gefrühstückt hatte, nahm James ein Taxi in die Elisabethstraße, um Sterkel aufzusuchen. Der Herr Major sei nicht zu Hause, wurde ihm gesagt. Er sei bereits ins Büro gefahren, es läge am Alexanderplatz gleich neben dem Hauptpostamt.
Es war fast elf Uhr, bis James herausfand, daß Major Sterkel der stellvertretende Leiter der militärischen Zensurstelle war. Eine halbe Stunde später betrat er Sterkels Büro.
Ein säuerlicher Beamter fragte ihn, aus welchem Grund er den Major zu sehen wünsche.
«Ich habe seine Visitenkarte.» James zog die gravierte Karte hervor. «Er hat mich aufgefordert, ihn zu besuchen, wenn ich in Berlin bin. Sagen Sie ihm, ich sei der Schweizer, den er in Friedrichshafen getroffen hätte.» Drei Minuten später saß er Sterkel an dessen Schreibtisch gegenüber.
«Ah, Herr... Herr Graber, nicht wahr?»
«Franke.» James sah ihm voll ins Gesicht und bemerkte, wie der andere seine rechte Augenbraue hob.
«Ach, mein Gedächtnis läßt nach. Ich dachte, Sie hießen Graber und seien Schweizer.»
«Nein, Deutscher.» James beschloß, alles auf eine Karte zu setzen. «Ich bin hier in Berlin geboren, habe aber jahrelang in der Schweiz gelebt, meine Familie ist dort hingezogen, weil -»
«Und was kann ich für Sie tun, Herr Franke?»
James wandte den Blick nicht von dem Offizier. «Ich bin nach Deutschland zurückgekehrt, um meinem Vaterland zu dienen. Ich dachte...»
Joseph Sterkel schob den Stuhl nach hinten. «Kommen Sie, Herr Franke. Ich mache immer eine Stunde Mittagspause. Kennen Sie Habel Unter den Linden? Ein vorzügliches Restaurant.»
Habel hatte eine reichhaltige Speisekarte, es war ein international bekanntes Lokal und besonders mittags immer rammelvoll.
Ein unterwürfig dienernder Kellner führte sie an den Tischreihen vorbei an einen Eckplatz am äußersten Ende des Raums.
Der Major war offensichtlich ein häufiger Gast bei Habel. Der Kellner redete ihn mit Namen und Dienstrang an. Sie fingen mit einer Leberknödelsuppe an und aßen anschließend Königsberger Klopse. Aber erst als der Oberkellner mit den Berliner Pfannkuchen kam, begann Sterkel eine ernsthafte Unterhaltung.
«Nun, Herr Franke, was wünschen Sie von mir?»
James senkte die Stimme. «In Friedrichshafen hatte ich den Eindruck, daß Sie von diesem Krieg nicht viel
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