Eine ehrbare Familie
Großinquisitor hätte bei ihm noch in die Lehre gehen können.
Sechs-Stunden vergingen, bevor Charles gerufen wurde, um Madeline abzuholen. Das Mädchen war kreideweiß und zitterte am ganzen Körper. «Der Mann ist grausam, ein schrecklicher Mensch», schluchzte sie.
Giles sah aus wie ein Eisberg. Und sehr zu Charles’ Beunruhigung vermied er während der Weihnachtsferien, mit ihm zu reden, während Madeline ihm keinerlei Anhaltspunkte gab, was während des Verhörs verhandelt worden war.
Weihnachten 1914 lagen die alliierten Heere den Armeen der Mittelmächte frierend und elend in Schützengräben gegenüber, die sich, südlich von Ostende angefangen, durch die Picardie und Champagne bis nach Lothringen zogen.
In Europa regnete es, in Haversage und Redhill fiel Schnee.
Die ganze Railton-Familie, mit Ausnahme von Bridget und Malcolm und natürlich den Grenots, hatte sich zum Weihnachtsfest im Herrenhaus zusammengefunden. Zu Saras Mißvergnügen etablierte sich Giles im Arbeitszimmer des Generals und verbrachte dort fast die ganze Zeit seines Aufenthalts.
Die Kinder und einige der Erwachsenen vergnügten sich im Schnee, bauten Schneemänner und fuhren auf alten Schlitten die Abhänge hinunter.
Caspar sah erstaunlich heiter aus. Er kam in einem Rollstuhl in Begleitung einer schönen, gertenschlanken Krankenschwester namens Phoebe, die ihn bemutterte. Er bestand darauf, mindestens zwei Stunden am Tag sein Holzbein auszuprobieren. Sein Mut und seine Entschlossenheit nötigten allen Bewunderung ab.
Erst am letzten Tag dieses trübseligen Weihnachtsfestes wurde der Familie klar, daß Phoebe die Tochter von Lord Mercer und Erbin des berühmten Baumwoll-Millionärs war. Es entging ihnen auch, daß sie Mary Anne auf die Zehen getreten war.
Mary Anne war in Uniform erschienen. Sie sollte im Januar zusammen mit einigen anglikanischen Schwestern nach Frankreich geschickt werden.
Heiligabend verbrachte sie einige Zeit mit ihrem Vetter Caspar.
«Bist du sicher, du stehst das durch, Mary Anne?»
«Ich habe alle meine Examen glänzend bestanden und lange auf verschiedenen Stationen gearbeitet.»
Caspar lächelte, aber nicht herablassend. «Mary Anne, ich hoffe nur, das ist Vorbereitung genug. Selbst erfahrene Berufssoldaten sind schockiert von der Barbarei der modernen Waffen. Ich hoffe nur, du bist robust genug.»
«Ich war robust genug, als wir früher Krieg spielten.»
«Dies ist kein Krieg spielen», fuhr Caspar sie scharf an. Dann lächelte er wieder. «Ja, du warst ein Wildfang. Onkel Charles hat dich wie einen Jungen behandelt, nicht wahr?»
Sie nickte. «Ja, er hätte es lieber gehabt, wenn ich ein Junge gewesen wäre. Nun, sein Herzenswunsch hat sich erfüllt. Er hat ja jetzt den kleinen William Arthur, nur daß er neuerdings nur noch selten zu Hause ist, so daß er wenig von seinem Söhnchen hat. Aber eins kann ich dir versichern, Caspar, so viel Prügel wie ich bekommen habe, wird Klein William Arthur nicht kriegen.»
Caspar bewegte sich in seinem Stuhl, und sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen.
«Ist alles in Ordnung, Caspar?»
«Natürlich nicht, Mary Anne.» Sie hatten sich seit ihrer Kindheit immer nahegestanden, aber jetzt sah Mary Anne zum ersten Mal Tränen in Caspars Augen. «Entschuldige, Mary, aber wie würdest du dich fühlen mit nur einem Arm und einem Bein? Wenn es ganz schlimm wird, pumpt Phoebe mich mit Morphium voll; die Ärzte sagen, mit der Zeit verschwinden die Schmerzen. Aber es sind nicht die Schmerzen, die mich quälen, sondern die mitleidigen Blicke der anderen. Ich brauche ihr Mitleid nicht. Ich will arbeiten...»
In diesem Moment betrat Phoebe das Zimmer. «Sie dürfen ihn nicht ermüden», sagte Phoebe in dem leicht überheblichen Tonfall der erfahrenen Krankenschwester.
Mary Anne lachte. «Selbst in seinem jetzigen Zustand, liebe Phoebe, kann ich ihn nicht ermüden.»
Caspar amüsierte sich im stillen über diesen Wortwechsel.
Am Weihnachtstag, als die Geschenke verteilt wurden, war Giles freundlich und gut gelaunt, aber Charles bemerkte, daß sein Onkel ihn nicht ein einziges Mal ansah. Während der restlichen Festtage -mit Ausnahme des Weihnachtsessens - vergrub sich Giles ins Arbeitszimmer des Generals. Er sah nur drei Familienmitglieder allein: James, Caspar und Roy.
James zitierte er am zweiten Weihnachtstag zu sich. Als sie sich gegenübersaßen, fragte Giles seinen Neffen, wie ihm Oxford gefiele. Er hatte für James einen kurzen Aufenthalt in der
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