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Eine ehrbare Familie

Titel: Eine ehrbare Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Gardener
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im Krankenhaus in Rouen sei und am Montag nach England zurückgeschickt würde.
    Nun mußte Sara Mildred trösten.
    «Ich fühle mich so hilflos», klagte Mildred mit rotverweinten Augen. «Die Ärzte sagen, sie sei nicht ernstlich krank. Was kann ihr nur passiert sein?».
    Mildred beschloß, am nächsten Tag, einem Sonnabend, nach London zurückzufahren, «um bei Charles zu sein.»
    Gott im Himmel, dachte Sara, diese Railton-Weiber! Bin ich auch so wie die? Mildred hatte einen endlosen Monolog über Mary Annes Kindheit gehalten und immer neue Theorien aufgestellt, was ihr wohl zugestoßen sein könne. Sie wußte zwar, daß Sara Dick Farthing sehr gern hatte und von Sorgen zerrissen war, aber sie sprach nur von Mary Anne. Kein Funken Mitgefühl, nicht von Mildred, dachte Sara.
    Mildred nahm den Frühzug am Sonnabend, und Sara geriet immer mehr in Panik. Sollte Dick wirklich noch am Leben sein, hätte sie längst von ihm gehört. Sie verfluchte den Krieg, sie verfluchte sich selbst. Warum war sie so eine moralinsaure Zimperliese gewesen? Warum hatte sie ihn nicht gleich geheiratet? Zumindest wäre sie seine Frau - oder seine Witwe.
    Sie versuchte zu schlafen, fand aber keine Ruhe. Sie wälzte sich im Bett hin und her, schließlich döste sie ein.
    Es war fünfzehn Minuten vor sechs, als Vera Bolton, bereits angezogen und geschäftig, ins Zimmer stürzte. «Telefon! Telefon!»
    Sara warf ihren Morgenrock über, ihre Hand zitterte, als sie die Hörmuschel ans Ohr drückte: «Hallo?»
    «Ich konnte Sie nicht eher anrufen. Mir geht es gut.»
    Sara stieß einen kurzen Schrei aus, als sie Dick Farthings Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm.
    «Hunter? Jack Hunter? Dieser pervertierte Kerl, der Schützling deines Vaters?» Mildred runzelte die Augenbrauen.
    Charles berichtete ihr, was er wußte. Mary Anne sei im St.-Thomas-Krankenhaus; die Ärzte sagten, es ginge ihr gut. «Das Merkwürdigste ist, daß anscheinend ein deutscher Offizier, Brasser, ihr Leben gerettet hat», fuhr Charles fort. Und dann erzählte er ihr die ganze Geschichte.
    «Sie ist von einem dieser Hunnen gerettet worden, aber...»
    «Also das steht einwandfrei fest, Mildred. Kell hat mit ihm gesprochen, und wir haben die Erlaubnis erhalten, ihn erst mal auszukurieren. Der Mann hat einen furchtbaren Schock erlitten. Aber er hat unsere Tochter gerettet! Wir verdanken es ihm, daß Mary Anne noch lebt.»
    Sie weinte still vor sich hin. «Wird diese Geschichte etwa an die Öffentlichkeit gelangen, Charles? Ich meine, was sind Mary Annes Zukunftsaussichten. Ein junges Mädchen, das...»
    «Vergewaltigt wurde», beendete Charles ihren Satz. «Du mußt dich mit dieser Tatsache abfinden, Mildred.»
    «Niemals, die Schande, diese Schande...»
    Er legte den Arm um ihre Schultern. «Mary Anne muß vor dem Kriegsgericht aussagen und der Deutsche ebenfalls. Nichts wird an die Öffentlichkeit dringen, mach dir darum keine Sorgen. Und anschließend kommt natürlich ein Zivilprozeß.»
    «Ein Zivilprozeß! Und Mary Anne muß auch aussagen?»
    «Die Polizei in Oxfordshire will Hunter verhören. Kurz vor dem Krieg wurde ein kleines Mädchen ermordet. Komm, jetzt wollen wir unsere Tochter besuchen.»
    Mildred wandte sich ab und starrte aus dem Fenster auf den Frühlingsregen, der sanft auf die Bäume in der Straße fiel. Sie sagte: «Ich glaube nicht, daß es mir möglich ist, meine Tochter je wiederzusehen.»
    Die Kleider, die er anhatte, einige deutsche Mark, sein Messer, eine Mauser-Pistole, zwei Sorten von gefälschten Papieren und seine Kenntnisse, das war alles, was James übriggeblieben war. Sein Instinkt sagte ihm, sich aus dem Staub zu machen, in die Schweiz zu fliehen. Statt dessen nahm er die Straßenbahn nach Wilmersdorf und schickte ein weiteres Telegramm ab. Dann suchte er die letzte Adresse auf, die C ihm gegeben hatte.
    Es war die eines lutheranischen Pfarrers, der unter anderem auch in Oxford studiert hatte. Und dort hatte er verschiedene Leute getroffen, die inzwischen hohe Posten im Foreign Office bekleideten. Pastor Bittrich hatte einige von ihnen während der Jahre 1908 und 1914 in seinem Haus bewirtet. Im Verlauf dieser Jahre hatte er des öfteren eine Bemerkung fallenlassen, daß er, falls es zum Krieg zwischen Deutschland und England käme, bereit wäre, den Engländern zu helfen. Sie hatten ihm sogar ein Paßwort gegeben, falls Sie seine Hilfe brauchten.
    Das Haus in der von Bäumen gesäumten Gasterstraße war altmodisch und anziehend, es machte

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