Eine ehrbare Familie
nicht...» Sie saß zusammengekauert im Stuhl, dann plötzlich stand sie auf, sah ihn an und sagte mit ruhiger Stimme: «Ja, Dick, ich heirate dich, wann immer du willst.»
Er nahm sie in die Arme, und sie blieben lange dicht aneinandergeschmiegt stehen. Dann löste er sich sanft von ihr und sagte: «Dann fahren wir morgen nach London und kaufen einen Ring. Anschließend geben wir unsere Verlobung bekannt. Ist dir das recht so?»
«Was immer du willst, Dick. Ich liebe dich. Aber nun genug der Worte...»
Sie ging ihm voran in ihr Schlafzimmer.
Der Pfarrer lud ihn zu Kartoffelsuppe und einem Schmorbraten ein. Sie sprachen wenig miteinander; nach der Mahlzeit führte sein Gastgeber James in eine kleine Dachkammer.
«Hier werden Sie zumindest ein paar Tage lang in Sicherheit sein», sagte der Gottesmann. James legte sich angezogen aufs Bett und fiel in tiefen Schlaf.
Er träumte von Tönen - ein Klavier spielte Bach und Liszt. Er hörte den Pastor nicht, der in den frühen Morgenstunden das Haus verließ, noch hörte er ein wenig später die Ankunft der Männer. Er wachte erst auf, als ihn jemand unsanft an der Schulter schüttelte. Er griff unters Kopfkissen, doch seine Pistole war nicht mehr da.
«Sie sind Gustav Franke?» Zwei Männer standen vor ihm, beide untersetzt, ihr barsches, herrisches Wesen verriet James, daß sie Polizisten waren. James versuchte, seine Schlaftrunkenheit abzuschütteln.
«Nein, ich heiße Graber.»
«Und wir wissen, daß Sie Franke heißen», sagte einer der Männer.
«Und Sie werden mit uns kommen.» Der andere riß ihn vom Bett hoch und ließ James keine Zeit zu widersprechen.
Er sah weder den hageren Pfarrer noch das rotwangige Hausmädchen, als sie ihn die Treppe hinunter zum wartenden Wagen stießen.
19
Als Mary Anne aus dem Krankenhaus nach Hause kam, war sie wie eine Maus, die beim geringsten Laut ängstlich hochschreckte. Mildred zwang sich, nett zu ihr zu sein, obwohl sie sich durch die Vergewaltigung ihrer Tochter persönlich gedemütigt fühlte. Am zweiten Abend nach Mary Annes Rückkehr ging Mildred ins Kinderzimmer und fand dort ihre Tochter vor, die mit ihrem kleinen Bruder spielte. Sie schrie Mary Anne an und befahl ihr, den Kleinen in Ruhe zu lassen. Man hätte fast meinen können, Mildred hielte Mary Annes Schande für ansteckend.
In Mildreds Augen war es Mary Annes Schuld, daß ihr diese schreckliche Sache widerfahren war, und so sah sie ihre Tochter als eine Überträgerin des Bösen, die die Sünden des Fleisches an Unschuldige weitergeben konnte. Ihre Ablehnung alles Sexuellen, die sich nach der schweren Geburt von William Arthur eingestellt hatte, steigerte sich zu Abscheu. Alle Erinnerungen an das Vergnügen, das sie früher empfunden hatte, verblaßten und wurden verdrängt.
Sie ging immer öfter in die Kirche, gelegentlich zu drei Gottesdiensten an einem Sonntag, und vier oder fünf Mal in der Woche. Sie sagte sich, daß ihre Tochter schändliche Sexualwünsche in sich genährt habe, ohne die sie nie das Opfer einer Vergewaltigung geworden wäre. Die Unlogik dieses Arguments ging ihr nicht auf.
Dann kam die Verhandlung vor dem Kriegsgericht.
Mildred weigerte sich, hinzugehen und Mary Anne beizustehen. Aber Charles hielt zu seiner Tochter. Er fuhr mit ihr nach Aldershot, saß neben ihr im Gerichtssaal und war stolz auf ihre präzisen Aussagen.
Sie hatten Otto von Brasser von London geholt. Es stellte sich heraus, daß er etwas Englisch gelernt hatte, aber der größte Teil seiner Zeugenaussage wurde von einem Dolmetscher übersetzt. Am letzten Tag sprach der Richter Artilleriehauptmann von Brasser seine Hochachtung aus und betonte mehrmals, daß der Deutsche der Pflegerin Railton das Leben gerettet habe. Korporal Jack Hunter wurde aus der Armee ausgestoßen und zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt und den Zivilbehörden überantwortet, die ihn ihrerseits in die Zange nahmen. Er wurde einen Monat später des Mordes an Emma Gittins angeklagt. Im April erschien er vor dem Hauptgerichtshof, bekannte sich schuldig, wurde zum Tode verurteilt und am 26. Juni 1916 gehängt.
Auf dem Heimweg fragte Mary Anne ihren Vater, ob es möglich wäre, den Deutschen zu besuchen. «Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, ihm zu danken.»
Charles sagte, er würde sich erkundigen. Er sprach am folgenden Tag mit Vernon Kell, weil er wußte, daß dessen Leute Brasser aushorchten und seine eventuelle Loyalität überprüften. Sie benutzten zu diesem Zweck dasselbe Haus
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