Eine ehrbare Familie
nicht, wer sie vergewaltigt hatte, ob es ein Mann gewesen sei oder ein junger Bursche...»
Ihre Mutter verrannte sich in die fixe Idee, daß Mildred an allem schuld war, und wurde von Pastor Edwards in dieser verrückten Ansicht auch noch bestärkt. Das arme Kind hatte einen furchtbaren Schock erlitten und brauchte Zuspruch, Liebe, Verständnis und ärztliche Behandlung. Statt dessen beschimpften ihre Eltern sie und quälten sie mit endlosen Fragen.
«Aber für die kleine Mildred hatte das Erlebnis anscheinend eine so große Bedeutung - ich persönlich glaube, es hat ihr sogar Vergnügen gemacht daß sie beschloß, die Einzelheiten für sich zu behalten. Sie gab keine Antwort und keine Auskunft, woraufhin der Pastor und seine Frau sie als Sünderin behandelten. Ich bitte Sie, ein Kind von zwölf! Sie wurde zwei Tage lang bei Wasser und Brot in eine dunkle Kammer gesperrt. Als die Eltern sie wieder herausließen, sagte sie immer noch nichts. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Erinnerung wohl tatsächlich so gründlich verdrängt, daß sie für immer begraben war.»
«Und Sie schwören mir, daß sich das alles wirklich abgespielt hat?» Charles’ Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück, zu ihrer Hochzeitsnacht, die Mildred so sehr genossen hatte. Nach dem ersten Mal war sie unersättlich gewesen und hatte ihn immer wieder gierig an sich gezogen. Und dann plötzlich fiel ihm eine merkwürdige Bemerkung ein. In den frühen Morgenstunden hatte sie ihre Beine um seine Lenden geschlungen und geflüstert: «Wäre es nicht wunderbar, sich im Freien zu lieben, unter den Bäumen im Wald?»
Konnte dieses schreckliche Kindheitserlebnis der Grund für ihre hysterische Reaktion auf Mary Annes Vergewaltigung sein?
«Es gibt noch etwas anderes, das ich Ihnen sagen sollte», fuhr der Pfarrer fort. «Ich tue es nur ungern, aber vielleicht hilft es Ihnen. Ungefähr eine Woche nach dieser furchtbaren Sache sprach ich mit einem weisen alten Mann, der sich sehr gut mit den Sitten und Gebräuchen von Bewohnern abgelegener Dörfer auskannte. Wir unterhielten uns darüber, was sie im Alltag so alles sehen und hören, und dann sagte er etwas sehr Aufschlußreiches: - er nannte den Namen eines Jungen aus dem Dorf - »
Charles dankte dem Pfarrer und verabschiedete sich.
Am nächsten Morgen ging er zu Mildreds Arzt und wiederholte ihm das seltsame Gespräch. Eine Woche später sprach der Arzt ausführlich mit Charles. Er sagte ihm, daß er überzeugt davon sei, daß es in Mildreds Kindheit ein sexuelles Erlebnis gäbe, das ihr Vergnügen bereitet hätte, aber mit Schuldgefühlen belastet sei. «Ich zweifle, ob sie es je wagen wird, sich daran zu erinnern. Das Bewußtsein geht seine eigenen Wege. Das Gedächtnis ist voller Tricks. Wenn sie sich dazu überwinden könnte, die Erinnerung an ihr Kindheitserlebnis wieder in sich wachzurufen, würde ihr das sehr gut tun.»
Doch so weit war es in der ersten Oktoberwoche noch nicht, als Charles den Telefonanruf von Madeline Drew erhielt, die ihm mitteilte, daß sie wieder in England sei.
Sie trafen sich, wie verabredet, in einem kleinen Café in Knightsbridge, und kaum wurde Charles ihrer ansichtig, spürte er wieder die Macht, die sie über ihn hatte.
«Was tust du in London?»
«Charles.» Ihre klaren, ehrlichen Augen strahlten ihn voller Liebe und Begierde an. «O Charles, ich habe solche Angst gehabt. Ich habe dich so vermißt.»
«Wann bist du angekommen? Ich muß berichten, daß du hier bist, du brauchst Schutz. Sie werden dir Fragen stellen wollen...»
«Nein, nein, nicht gleich», gurrte sie. «Ich will mit dir allein sein! Ich muß mit dir reden.»
Es war acht Uhr abends. Glücklicherweise brauchte Charles Mildred nicht zu erklären, wohin er ging, wenn er abends plötzlich wegmußte. Sie hatte gesagt, sie wolle sich früh hinlegen. Mildred hatte am Nachmittag Doktor Harcourt gesehen, und als Charles Cheyne Walk verließ, machte sie einen müden Eindruck.
«Ich kenne ein, zwei Wohnungen, die zu vermieten sind.» Er hatte kürzlich mit einem Kollegen einige Tage damit verbracht, sich nach
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