Eine ehrbare Familie
Er kratzte mit dem Daumen die Tage in einen der weicheren Steine seiner Zellenwand ein. Er hielt sich an eine strenge Routine. Jeden Morgen machte er ein paar Turnübungen, soweit das in dem kleinen, engen Raum möglich war, danach zitierte er alles, was er von Shakespeare auswendig wußte. Jeden Nachmittag flog er im Geist ein Flugzeug. Er startete in Farnborough, flog eine bestimmte Strecke, schloß die Augen und ging alle Handgriffe durch. Nachts führte er fiktive deutsche und französische Gespräche, um in Übung zu bleiben.
Man gab ihm weder Papier noch Schreibmaterial, so war er ganz auf sich selbst gestellt. Aber er wußte, daß sie ihn wieder verhören würden.
Er wußte jedoch nicht, daß es der Tag von Heiligabend war, als das Guckloch sich zu einer ungewöhnlichen Zeit öffnete und wieder schloß. Es war noch früh am Morgen, und er war gerade beim Aufstehen.
James war verwirrt, weil unerwartet eine Erinnerung in ihm erwachte und ein Hauch von Parfüm in seine Zelle eingedrungen zu sein schien. Ein angenehmer Duft wie von Frühlingsblumen, der ihm vertraut vorkam. Er wußte aber nicht, woher.
Major Nicolai wartete am Heiligabend am Gefängnistor, als die Frau kam. Er begrüßte sie mit größter Höflichkeit, und sie tranken in einem kleinen Büro zusammen Kaffee, bevor er sie ins Innere der alten Festung führte.
Es war ein feuchter, trostloser Ort, und später dachte sie, er hätte nach Verzweiflung gerochen.
Walter Nicolai und Steinhauer hatten ihr erklärt, was von ihr erwartet wurde. Sie blieben vor der Zellentür stehen, stellten sie direkt vor das Guckloch, und als sie nickte, öffneten sie es.
Es dauerte nicht länger als drei Sekunden, als sie wieder nickte. Das Guckloch wurde geschlossen.
Einige Minuten später stand sie Nicolai allein in demselben Büro gegenüber.
«Nun», fragte er, «haben Sie ihn wiedererkannt?»
Sie nickte. «Ja, er ist weder Deutscher noch Schweizer. Er ist Engländer und heißt James Railton. Amüsiert Sie das?»
Nicolai schüttelte langsam den Kopf. «Nein, aber es interessiert mich. Wir können einen Mann namens James Railton sehr gut gebrauchen.»
In seiner Zelle zitierte James laut aus dem Sturm, und er vermeinte, den Duft englischer Sommerblumen zu riechen. Und plötzlich fiel es ihm ein: Seine Kusine Marie benutzte ein Parfüm, das nach Sommerblumen roch. Und er wußte, daß ihm eine Hölle bevorstand, mit der verglichen seine Einsamkeit ein Kinderspiel war.
Dritter Teil
Januar 1916-Oktober 1935
21
Giles Railton hatte persönlich, im Einverständnis mit Basil Thomson, dem Chef der Geheimpolizei, die Anordnung gegeben, Charles zu beschatten. Diese Anordnung war allerdings nur einem kleinen Kreis bekannt. Vernon Kell zum Beispiel gehörte nicht dazu. Eine Folge dieser Überwachung war, daß sie die Wohnung in Hans Crescent entdeckten.
Ohne daß Madeline oder Charles es wußten, war ein Geheimdienstler in die Wohnung eingedrungen und hatte Abhörgeräte eingebaut.
Es waren keine sehr raffinierten Geräte, aber achtzig Prozent der Gespräche im Schlafzimmer wurden abgehört, in Stenographie übertragen und von mehreren Sekretärinnen abgetippt. Die vollständigen Berichte gingen ausschließlich an Polizeichef Basil Thomson und Giles Railton.
Giles las diese seitenlangen Gesprächsübertragungen nur mit Mißvergnügen. Da sie direkt aus dem Schlafzimmer kamen, gab es natürlich oft Passagen, in denen es schlicht hieß: «Die betreffenden Personen betätigen sich sexuell. Gespräche fanden während dieser Zeit nicht statt.»
Aber es gab einige hochinteressante Unterhaltungen, und eine davon fand Anfang Januar statt.
Sie waren im Schlafzimmer, als Charles auf die Problematik ihres Informationsaustauschs zu sprechen kam. Madeline schien sich der Ernsthaftigkeit der Situation, in die sie sich beide hineinmanövriert hatten, nicht voll bewußt zu sein.
«Aber ich erzähle dir doch alles, was ich weiß», beklagte sie sich. «Ist denn das nicht genug?»
“Natürlich nicht. Verstehst du nicht, daß alles, was du mir sagst, unter den gegebenen Umständen nicht verwendbar ist? Du hast mich angefleht, meinen Leuten nichts von deiner Rückkehr zu sagen, und ich Narr habe zugestimmt. Nun ist es zu spät. Ich muß eines Tages...»
Wie immer wurde sie fast hysterisch, wenn er davon sprach, zu seinen Vorgesetzten zu gehen. «Steinhauers Leute werden mich umbringen», schluchzte sie. «Ich schwöre dir, Charles, dies hier ist die einzige Möglichkeit. Du
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