Eine ehrbare Familie
über seine Zinnsoldaten und Landkarten gebeugt in seinem Arbeitszimmer. Aber sein stets reger Geist war mit Charles beschäftigt. Natürlich war er sehr beunruhigt über Mary Annes Verschwinden und das hysterische Verhalten seiner Frau. Aber Giles witterte, daß noch mehr hinter Charles’ Unruhe steckte, und der einzig andere wichtige Mensch in seinem Leben war diese Frau, die sie die «Möwe» nannten.
Anfang Oktober 1915 schöpfte Charles neue Hoffnung, daß Mildred doch noch zu kurieren sei. Dieser vage Hoffnungsschimmer kam von einer völlig unerwarteten Seite. Charles saß wie so oft am Abend in seinem Club, um sich mit einigen Glas Gin Mut für den Nachhauseweg anzutrinken.
Der Club war an diesem speziellen Abend nicht sehr voll. Charles nahm sich die Times und setzte sich auf seinen Lieblingsstuhl. Nach einigen Minuten spürte er, daß ihn jemand anstarrte. Der Mann war ein rundlicher Pfarrer mit dicken Brillengläsern, rosigen Wangen, schneeweißem Haar und zarter Babyhaut.
Charles nickte ihm kurz zu. Er hatte den Pfarrer schon mehrmals im Club gesehen, kannte aber nicht seinen Namen. Der Mann kam auf ihn zu.
«Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?» Die Stimme war kräftig und ohne den salbungsvollen Ton, der so vielen Klerikern zu eigen ist. «Sie erinnern sich natürlich nicht an mich. Sie sind doch Charles Railton, nicht wahr?»
Charles nickte.
«Mein Name ist Merchant», sagte der Mann. «Paul Merchant, Pfarrer in Maddington. Sie haben doch die junge Mildred Edwards geheiratet, die Tochter von Pastor Edwards. Ich war Pfarrer der benachbarten Gemeinde. Wir haben uns einmal im Pfarrhaus getroffen.»
Charles grub in seinem Gedächtnis nach. Er konnte sich nur sehr vage an das düstere, etwas schäbige Pfarrhaus erinnern, wo er Mildreds Vater, einen typischen frömmlerischen Landpfarrer, der am laufenden Band Bibelsprüche von sich gab, kennengelernt hatte.
«Nein, es tut mit leid, ich erinnere mich nicht», sagte Charles mit verlegenem Lächeln.
«Nein, natürlich nicht. Aber ich würde gern mit Ihnen sprechen. Wissen Sie, ich kenne nämlich Mildred, seit sie ein Kind war, und ihre Eltern waren mir auch gut bekannt.» Er kicherte freundlich. «Ich bin jetzt in einem Alter, wo ich mich nicht mehr erinnern kann, was ich gestern getan habe, dafür aber steht mir die Vergangenheit völlig deutlich vor Augen.» Er blickte nachdenklich zu Boden, dann fuhr er fort: «Es mag sein, daß Sie darüber nicht reden wollen. Aber ich glaube, es wäre wichtig.»
«Worüber?» Charles war auf der Hut. Die Londoner Clubs, dachte er, werden sich nie ändern. Jeder weiß alles über jeden, aber die Geheimnisse wurden so wohl gehütet wie die Kronjuwelen. Sicher wußten alle Mitglieder über Mary Annes Verschwinden und Mildreds Hysterie Bescheid. Natürlich würde keiner von ihnen es Außenstehenden gegenüber erwähnen, aber im Club würden sie darüber sprechen.
«So manches kommt einem zu Ohren.» Merchant sah ihn nicht an.
«Was zum Beispiel?»
«Ich möchte keinen Klatsch wiederholen, aber darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Sie betrifft Mrs. Railton - Mildred Edwards -, als sie zwölf Jahre alt war.»
Charles war beunruhigt, nickte jedoch. «Ja, bitte.»
«Sie war ein liebes Mädchen, streng im Glauben erzogen, gehorsam und anmutig. Hat sie sich sehr verändert? Natürlich hat sie sich verändert. Es fing schon damals an, nachdem die Sache im Pfarrhaus geschehen war.»
«Welche Sache?»
«Es war unerfreulich. Ich will nicht ungerecht sein, aber Pastor Edwards und seine Frau haben sich nicht sehr geschickt verhalten.
Ich weiß von der Sache nur, weil ich im aller ungeeignetsten Moment hereingeschneit bin.»
Er erzählte seine Geschichte ohne weitere Umschweife, beschränkte sich auf die Tatsachen wie ein gewissenhafter Zeuge, der eine Aussage macht.
Einige Wochen vor Mildreds zwölftem Geburtstag war sie an einem Nachmittag allein im Pfarrhaus gewesen.
Als die Eltern zurückkamen, war Mildred nirgends zu finden. Es war Sommer, und die Eltern vermuteten, das Kind wäre in den Wald gegangen.
Dort fanden sie ihre Tochter auch. Ihre Kleider hingen in Fetzen an ihr herunter, ihre Oberschenkel waren blutverschmiert und ihr Geist verwirrt.
«Ich war im Haus, als sie hineingebracht wurde», sagte Merchant. «Zuerst dachten wir, sie sei nur überfallen worden. Der Arzt kam und... nun... ja... jemand hatte sich an ihr vergangen. Sie konnte keinen zusammenhängenden Bericht geben und sagte auch
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