Eine ehrbare Familie
Sara lachte. «Aber es gibt auch jemand, der sogar Giles ausstechen kann.»
«Da frage ich mich aber wer? Du etwa?»
Sie sah ihn so unschuldig an wie eine Katze, die gerade Sahne aufgeschleckt hatte. «Ich war heute früh beim jungen Mr. King von King, Jackson & King. Er sieht zwar etwas unbedarft aus, aber sein Verstand funktioniert. Er hat mir gesagt, daß John in seinem Testament eindeutig festgelegt hat, daß ich auch nach einer Wiederverheiratung mit meinem Mann in Redhill wohnen und das Gut verwalten kann. Das einzige, was ich nicht darf, ist, das Gut an meinen neuen Mann vererben. Ich muß es James hinterlassen. Giles wird außer sich sein und befürchten, daß ich das Railton-Vermögen verprasse. Aber Mr. King sagt, Johns Testament sei hieb- und stichfest. Und selbst wenn der alte Giles vor Wut platzt, vertreiben aus Redhill kann er mich nicht.»
Sie hatte bereits mit Andrew gesprochen, der die Idee begrüßt hatte, daß sie in Redhill wohnen blieb. «Er hat mich Schwesterchen genannt, ich glaube, er war schon sehr betrunken. Ich werde natürlich auch mit den anderen Railtons reden, die Frauen stehen bestimmt auf meiner Seite - außer Mildred vielleicht. Sie ist völlig unberechenbar geworden, seit Mary Anne verschwunden ist.»
Sie beendeten ihr Mittagessen und verließen das Ritz, wo sie sich' getroffen hatten. Dick mußte eine Verabredung im Kriegsministerium einhalten, Sara ging zu Caspar.
Er hatte sich, als wolle er seine Unabhängigkeit öffentlich demonstrieren, ein kleines Haus in der Nähe von Bedford Square gemietet. Sara hatte in der Früh im Büro angerufen und erfahren, daß er einen freien Tag hatte, und nun wollte sie ihm einen Überraschungsbesuch abstatten.
Es war kurz vor drei, als sie klingelte. Niemand antwortete. Sara bemerkte, daß die Haustür nur angelehnt war, stieß sie auf und betrat die kleine Halle. Hinter der Tür zu ihrer Rechten hörte sie beunruhigende Laute: ein Stöhnen, als hätte jemand Schmerzen, und heftige Atemstöße.
Sie wollte Caspar nicht erschrecken, falls er gefallen war und sich verletzt hatte. Sie öffnete mit äußerster Vorsicht die Tür und schloß sie sofort wieder.
Das Paar hatte sie nicht bemerkt. Sie schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Haus und eilte die Straße entlang.
Sieh mal einer an, dachte sie, Phoebe Mercer, Tochter von Lord Mercer, macht Liebe mit Caspar. Bald werden wohl wieder die Hochzeitsglocken läuten.
Seit der Nachricht im Mai, die besagte, daß Frau Dimpling verhaftet worden war, hörten sie nichts mehr von «Peewit». Im Juni erschien eine kurze Notiz im Berliner Tageblatt, daß eine Frau Henrietta Dimpling, Engländerin, durch Heirat mit einem Deutschen aber deutscher Nationalität, der Spionage angeklagt, für schuldig befunden und erschossen worden sei.
Franke, Graber, Railton - diese Namen wurden nicht erwähnt.
«Sie werden noch nicht mal den Anstand haben, es uns mitzuteilen.» Giles war überzeugt von James’ Tod. C bemerkte zum ersten Mal eine gewisse Trauer in Giles’ Gesicht.
C verfügte, daß niemand Margaret vor der Geburt ihres zweiten Kindes, das im August erwartet wurde, von den Ereignissen berichten dürfte.
Mary Anne war noch immer verschollen. Aber Charles hatte erreicht, daß Mildred einen Arzt konsultierte. Sie lief zwar noch ständig in die Kirche, aber die Beruhigungsmittel schienen etwas zu wirken.
Sie warteten also bis August, bevor sie Margaret die Wahrheit sagten. In der Zwischenzeit waren sie alle voll beschäftigt. Charles überprüfte die Berichte der in die Gefangenenlager eingeschleusten Männer, unter denen sich auch Otto von Brasser befand. Einige von Kells Leuten arbeiteten eng mit ihren Kollegen in Frankreich und Irland zusammen, wo die Lage sich deutlich zuspitzte. «Irland ist wie ein ständig beaufsichtigter Kochtopf», sagte Kell. «Er kocht nie ganz über, aber eines Tages wird er es tun, vielleicht gerade in dem Moment, wo wir nicht hingucken.»
Nach der Katastrophe von Gallipoli verließ Churchill die Admiralität und wurde Minister ohne Portefeuille in Asquiths neuer Koalitionsregierung. Später im Jahr würde er ganz aus dem Kabinett ausscheiden. Der dringend benötigte und so lange vernachlässigte Munitionsnachschub funktionierte endlich, und der Krieg hatte eine neue Wendung genommen. Deutsche Zeppeline begannen, England anzugreifen. Sie bombardierten sogar London. Niemand fühlte sich mehr sicher.
An der Westfront kämpften und starben Männer für ein paar hundert
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