Eine ehrbare Familie
Schuldgefühle quälten ihre Seele. O Mary Anne! Mary Anne! Verzeih! Verzeih! Das junge Gesicht von Peter über ihr unter den dunklen Bäumen. Der kleine Schmerz. Das große Vergnügen.
Das Gesicht der Oberschwester war nicht so streng wie sonst, wenn sie einen zu sich befahl.
«Setzen Sie sich, Railton.» Sie lächelte sogar.
«Vielen Dank, Oberschwester.»
«Ich habe eine traurige Nachricht für Sie...» fing die Oberschwester an.
«Oh, Gott, nicht mein Vater...»
«Nein, meine Liebe, Ihre Mutter. Es tut mir aufrichtig leid. Sie bekommen natürlich sofort Urlaub.»
Aber Mary Anne dachte nicht an Urlaub. Es war furchtbar, sie wußte, daß es ganz furchtbar war, aber sie empfand keine Trauer. Aus der Ferne hörte sie das Donnern der Geschütze.
27
Dicks ganze Staffel stieg auf, um ihn am nächsten Nachmittag in Abele zu treffen. Bis sie ankamen, hatte er eine Stunde lang die schwerfällige FE-2 ausprobiert. Dick fand sie laut und unbequem, aber er startete und landete ein halbes dutzendmal und versuchte, eine möglichst kurze Anlauf- und Aufsetzstrecke zu benutzen.
Der Kommandeur der 70. Staffel - Captain Cruickshank- erklärte ihm und Major Grouse die wesentlichen Punkte des Unternehmens. Denise hatte den Codenamen «Dot» erhalten. Ihr richtiger Name wurde nicht erwähnt.
Das Feld, wo sie aufgenommen werden sollte, lag außerhalb eines Dorfs ungefähr zehn Kilometer östlich von Tournai. «Leicht überblickbares Gelände», sagte Captain Cruickshank, «und daher | gefährlich. Wir haben das Feld nur ein einziges Mal benutzt.»
Wenn Dick es von Nordosten anflöge, könne er fast bis zur Ecke des Felds rollen, wo eine kleine Baumgruppe stand. Die einzig halbwegs geschützte Stelle. «Dot» würde unter den Bäumen warten.
«Vergewissern Sie sich, daß sie tatsächlich ist, nehmen Sie sie an Bord, und dann nichts wie weg», riet ihm Cruickshank, bevor er auf die unerfreulicheren Einzelheiten zu sprechen kam. «Falls sie die falsche Person ist oder wenn sie auf dem Weg zum Flugzeug verwundet wird, erschießen Sie sie. Keine Gefühlsduselei. Befehl von ganz oben.»
«Au, verflucht!» stöhnte Dick.
«Das Beste für das Mädchen, wenn man die anderen Möglichkeiten bedenkt.»
Dick nickte resigniert. Den Nachmittag verbrachte er mit Landkarten und Fotos des Geländes, kurz vor der Dämmerung flog er probeweise noch einmal die FE-2.
Denise war einkaufen gegangen -nicht daß man viel kaufen konnte in Lanaken in diesen Tagen. Nach drei Stunden Wartezeit hatte sie einen Kohlkopf und ein halbes Stangenbrot ergattert.
Als sie in die Avenue Sint-Ulrik einbog, wo sie bei einem zu dem Agentennetz gehörenden Ehepaar wohnte, war sie gut gelaunt. Aus dem Kohl könnten sie eine Suppe kochen, und Brot hatten sie schon seit zehn Tagen nicht mehr gesehen.
Vor dem Haus standen zwei Autos und ein von Pferden gezogener Lieferwagen. Soldaten hatten die Straße abgesperrt. Denise erinnerte sich an ihre Instruktionen, ging scheinbar unbekümmert weiter und bog in eine Gasse ein, die fast bis zur Kirche führte.
Sie hatte nur wenig Geld bei sich und blieb sogar stehen, um es zu zählen. Es würde gerade für eine Fahrkarte nach Brüssel reichen. Am Bahnhof mußte sie eine Stunde warten. Jede Minute war eine Qual. Der Bahnhof würde als erstes kontrolliert werden. Wenn sie das Ehepaar Valerie und Albert erwischt hatten, wüßten sie auch über sie - Jacqueline Baune - Bescheid.
Der Zug fuhr ein, und sie fand ein volles Abteil. Man hatte ihr eingebleut, immer ein volles Abteil zu wählen.
Sie unterbrach ihre Reise in Leuven. Die Deutschen würden alle Züge, die direkt aus Lanaken kamen, überwachen. Sie wollte eigentlich die Lokalbahn nehmen, aber sie sah Polizisten und bestieg den Autobus nach Brüssel.
Kurz vor der Polizeistunde klopfte sie an Marguerite Walraevens Tür in der Rue Medori. Marguerites Haus war der Treffpunkt des «Biscops-Rings», und dort stand auch ein Funkgerät. Allen Agenten waren Fluchtwege angegeben worden.
Marguerite war ruhig und beherrscht, als sie Denise fast beiläufig sagte, daß ihre Personalbeschreibung und die von einer zweiten Person zirkulierten. «Nur zwei von euch sind entkommen. Ich glaube, die Deutschen haben euer Agentennetz infiltriert.»
Dann stellte sie Denise vor die Wahl, sich entweder im Keller zu verstecken, was das sicherste wäre, oder zu fliehen. Wenn sie letzteres vorzöge, müßte sie weit gehen und zwei Tage und zwei Nächte in der Kälte im Freien
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