Eine ehrbare Familie
einem deutschen Offizier versprach, der über die Anwendung des Schlieffenplan im Kriegsfall Bescheid wußte. Es war nicht anzunehmen, daß der junge Klaus von Hirsch zu diesem Zeitpunkt auch nur die geringste Ahnung hatte, daß seine Geliebte Informationen nach England weitergab - obwohl es nicht ganz auszuschließen war.
Die Bedeutung der Situation war von Anfang an klar. Marie war die Beziehung im Jahre 1910 zweifellos mit offenen Augen eingegangen. Sie hatte es als ihre patriotische Pflicht angesehen. Ihre Untreue war wie eine Wunde, die ein Soldat auf dem Schlachtfeld erleidet. Aber noch nie war eine Wunde so angenehm und süß gewesen. Klaus bereicherte ihr Liebesieben, er tat Dinge, von denen sie nur in ihren kühnsten, fiebrigsten Momenten geträumt hatte.
Während der ersten zwei Jahre ihrer Affäre und sogar später noch, als sie bereits wußte, daß sie Klaus fast bis zur Hörigkeit liebte, war Marie ihrer Pflicht England und ihrer Familie gegenüber gewissenhaft nachgekommen. Sie horchte Klaus aus, aber das schränkte weder ihr Vergnügen ein noch das volle Erblühen ihrer Liebe.
1912 litt Marie Folterqualen beim Gedanken, daß ihr Liebhaber nach Berlin zurückversetzt werden würde, denn im Frühjahr dieses Jahres war seine Dienstzeit bei der Botschaft abgelaufen.
Zu jener Zeit war das Liebespaar schon übermäßig vorsichtig geworden. Sie trafen sich zwei- oder dreimal in der Woche, gewöhnlich in einer von Klaus unter einem Decknamen gemieteten Wohnung in der Nähe der Tuilerien.
Und so geschah es, daß Marie sich an einem bitterkalten Nachmittag Anfang März 1912 auf Umwegen zu dieser Wohnung begab. Das unfreundliche Wetter und die kahlen Bäume, die sich skelettartig gegen den Himmel abhoben, schienen ihre innere Verzweiflung zu versinnbildlichen. Dieses Treffen würde ihr letztes sein, und Marie, von Natur aus nicht so leicht unterzukriegen, hatte ernsthafte Zweifel, ob sie diese Trennung überstehen würde.
Als sie den Ort des Stelldicheins erreichte, waren ihre Hände so kalt, daß es ihr schwerfiel, den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen und im Schloß umzudrehen. Innen lehnte sie sich an die Tür der kleinen Dreizimmerwohnung. Sie wußte, daß Klaus bereits da war, er kam immer etwas früher als sie.
Sekunden später erschien er in der Tür, die vom Wohnraum ins Schlafzimmer führte. Er war in Hemdsärmeln, in seiner rechten Hand hielt er ein Glas, über dessen Rand er ihr zulächelte.
«Willkommen, Liebling!» sagte er fröhlich lachend.
Sie wurde böse. Wie konnte er an einem so herzzerreißenden Tag vergnügt sein?
«Klaus, mir ist nicht zum Lachen zumute.»
Er stellte sein Glas ab und ging auf sie zu. «O doch, mein Schatz. Heute ist ein Tag der Freude, der Liebe und des Champagners!»
Sie öffnete den Mund, schloß ihn aber sogleich, als er sie umarmte. «Ich bleibe in Paris», flüsterte er. «Ich muß nicht zurück nach Berlin. Nicht einmal zum Rapport. Sie haben meine Dienstzeit verlängert.»
Zuerst konnte sie es fast nicht glauben. Aber er fuhr fort: «Und ich sag dir noch etwas anderes, Liebling. Wenn ich endgültig nach Berlin zurückmuß, nehm’ ich dich mit.»
Sie protestierte. Der letzte Vorschlag war nicht durchführbar. Es war einfach unmöglich. Doch am Ende des Nachmittags wußte sie, daß genau das geschehen würde. Wenn er Paris verlassen müßte, würde sie mit ihm gehen. Es war die einzige Möglichkeit.
Später konnte Marie Grenot sich ohne weiteres jede Einzelheit jenes Märznachmittags, an dem ihr Schicksal besiegelt wurde, ins Gedächtnis zurückrufen. Oft sah sie in den folgenden Monaten und Jahren die reifbedeckten Bäume der Tuilerien vor sich, die man aus dem Schlafzimmerfenster erspähen konnte, und vermeinte, den Geschmack der heißen Eßkastanien, die Klaus von einem Wägelchen auf der Straße geholt hatte, auf ihrer Zunge zu spüren.
Es waren diese alltäglichen Nebensächlichkeiten, an die sie sich erinnerte, als die schlechten Tage kamen.
Bevor sie nach Hause ging, stand Marie am Wohnzimmerfenster und blickte über die Dächer von Paris. Der kalte Nebel vermischte sich mit dem Rauch, der aus den Schornsteinen aufstieg, die Lichter der Großstadt flammten auf wie ein Feuerwerk. Sie vergaß dieses Bild ihr Leben lang nicht.
Während der nächsten Wochen kämpfte Marie mit Schuldgefühlen und begann zum ersten Mal die wahren Motive ihres Vaters zu prüfen. Ihr wurde plötzlich bewußt, daß es ihr Vater war, der das erste Zusammentreffen mit
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