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Eine ehrbare Familie

Titel: Eine ehrbare Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Gardener
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nach ihren Hauptinteressen und wie sich der deutsche Geheimdienst ihr gegenüber verhalten hatte, waren beantwortet. Es war jetzt kurz vor dem Mittagessen, und Charles beugte sich vor. «Madeline...» Sie hatten sich von Anfang an mit dem Vornamen angeredet. «Madeline, ich muß jetzt ein heikles Thema anschneiden, aber ich kann es nicht umgehen. Ich muß Sie nach Ihren Freunden fragen...» Charles zögerte und suchte nach dem richtigen, harmlosen Ausdruck. «Ich meine intime männliche Freunde. Verstehen Sie, was ich meine?»
    Sie senkte den Kopf; das Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, verlieh ihren Haaren einen goldenen Glanz. Dann richtete sie sich auf und sah ihn aus klaren Augen an. «Ich habe noch nie einen Liebhaber gehabt. Ich bin unberührt... zumindest körperlich.»
    «Was meinen Sie damit?»
    Sie erhob sich langsam und ging zum Fenster. «Ich weiß nicht, was Liebe ist.» Er verstand sie kaum, da ihr Gesicht von ihm abgewandt war.
    «Was meinen Sie damit?» wiederholte er und erinnerte sich an die Worte der Haushälterin: «Sie ist ein verwöhntes Mädchen, Mr. Rathbone.» Wie die meisten MO5 -Mitglieder kannte sie nur seinen Decknamen. «Sie wäscht nicht mal eine Tasse oder ein Glas ab. Ich muß dauernd hinter ihr herräumen, und das bin ich nicht gewohnt.» Die Frau war darüber sehr aufgebracht.
    Jetzt drehte Madeline sich zu ihm um. «Ich habe noch nie jemand geliebt. Aber wenn Liebe bedeutet, daß man alles mit einem Mann teilen möchte - die Gedanken und das eigene Verlangen -, dann habe ich in den letzten Tagen Liebe gefunden.»
    Er zögerte eine Sekunde lang, dann ging er mit drei großen Schritten auf sie zu und umarmte sie. Er strich ihr zärtlich über die Haare, zog ihren Kopf an sich und küßte sie. Dann richtete er sich auf, umklammerte ihr Handgelenk und murmelte: «Nein, nein, Madeline... noch nicht.»
    «Wann, Charles, bitte wann?»
    Er wußte, die Wachbeamten draußen konnten sie nicht sehen, und die Haushälterin würde erst am Spätnachmittag wieder erscheinen. «Heute nacht.»
    «Aber Mrs. Drood wird hier sein.»
    «Überlaß mir das. Wenn wir den ganzen Nachmittag arbeiten, dann ist mein täglicher Bericht fertig. Ich werde dem alten Drachen sagen, daß wir Zeit verloren haben, und gebe ihr den Abend frei. Wir können hier essen und dann...»
    Sie sah ihn ernst an. «Also, heute abend.»
    «Ja, aber wir müssen fleißig sein am Nachmittag und... hm...» Er wollte noch etwas Nettes sagen, aber ihm fiel nichts ein. Lang verheiratete Männer haben die Gabe, Komplimente zu machen, verloren.
    Sie war konzentriert und hilfsbereit, als er sie nach den Anweisungen ausfragte, die sie von Nicolai für ihre Verhaltensweise nach der Entführung erhalten hatte. Sie hatten sich bereits darüber unterhalten, aber Charles wollte erstens überprüfen, ob sie sich nicht widerspräche, zweitens hoffte er, ihr würde spontan irgendeine triviale Einzelheit einfallen, die eventuell zu einer wichtigen Information führen könnte.
    Wie immer die Entführung auch ausginge, sie sollte sich nach Coventry begeben. Dort würde man sich Ende September mit ihr in Verbindung setzen. Nicolais Leute waren vorsichtig. Sie hatte keinen Namen, keine Adresse vom Geheimdienst bekommen. Jemand würde sich bei ihr melden.
    Mrs. Drood, die Haushälterin, eine schlanke, gutaussehende Frau, die Tüchtigkeit förmlich ausstrahlte, kehrte kurz nach vier Uhr zurück. Charles ging in die Küche, wo sie den Nachmittagstee vorbereitete. Ihr Gesicht verriet den Arger, den sie über diese Art von niedriger Arbeit empfand.
    Er sagte ihr, daß die Arbeit heute nicht gut vorangegangen sei und er daher gegen acht Uhr noch einmal zurückkäme, um sein Pensum zu erreichen. Er wäre ihr dankbar, wenn sie den Abend freinähme und das Haus bei seiner Ankunft verließe. «Miss Drew fühlt sich durch Ihre Anwesenheit eingeschüchtert und ist dann weniger zugänglich. Das hat natürlich nichts mit Ihrer Person zu tun, Mrs. Drood, aber Sie wissen ja, wie heikel solche Unterredungen sind.»
    Wieder im Wohnzimmer, stellte er ein paar Fragen und kritzelte auf seinen Notizblock: «Ich habe ihr gesagt, ich käme heute abend noch einmal zurück. Sie geht fort.» Er gab Madeline den Zettel; sie las ihn und gab ihn zurück.
    Charles ging um halb sechs und begab sich direkt nach Hause.
    An diesem ersten von vielen Abenden verließ er Cheyne Walk kurz nach sieben, ging in seinen Club, holte zwei gute Flaschen Champagner, nahm ein Taxi, stieg an der

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