Eine ehrbare Familie
unseren Jungens wegen dieses Irrsinns ins Gras beißen müssen.»
Smith-Cumming gelang es sogar in dieser grimmigen Situation, kurz und rauh aufzulachen. «Sie haben nicht einmal die Informationen meiner Agenten zur Kenntnis genommen, daß jeden Tag fünfhundertundfünfzig Militärzüge über die Rheinbrücken fahren. Nun, jetzt wissen sie’s.»
Die Depeschen lagen auf Smith-Cumming Schreibtisch, stumme Zeugen der grausamen Wahrheit. Die britischen Streitkräfte waren mit einhunderttausend Mann in der Nähe von Mons auf die Erste Deutsche Armee gestoßen und hatten den Rückzug antreten müssen.
Giles sagte zornig: «Einer muß für diese Katastrophe zahlen.»
Er konnte nicht wissen, daß ein Mitglied der Familie Railton als einer unter vielen Tausenden für diese Katastrophe schon gezahlt hatte.
14
Kurz vor sechs Uhr abends stieg Charles Railton die Steinstufen zu der Eingangstür seines Hauses in Cheyne Walk hinauf. Es war der erste Freitag im September, und die Blätter färbten sich bereits rot und golden. Der Sommer schwand dahin und mit ihm die Chancen, einen entscheidenden Sieg in Frankreich zu erringen.
Es war bezeichnend für Charles’ Schuldgefühle, sofort anzunehmen, daß Mildred mit weiblicher Intuition die tiefsten Geheimnisse seines Gewissens erahnte, als er sie schluchzend im Wohnzimmer vorfand.
«O Charles!» Sie lief mit rotverweinten Augen und triefender Nase auf ihn zu.
Eine Sekunde lang war Charles so verwirrt, daß er nicht einmal nach dem Grund ihrer Tränenflut fragte. Er führte sie sanft zum Sofa, und sie berichtete ihm, daß Caspar verwundet war.
«Mein Gott!» Er vergrub sein Gesicht in die Hände. «Wie grauenvoll. Und er ist erst zwanzig. Ein Arm und ein Bein sagst du?»
Sie nickte. «Andrew hat von der Admiralität einen Boten mit einem kurzen Brief geschickt. Ich war den ganzen Nachmittag über bei Charlotte.» Sie hielt inne und schniefte. «Ich habe mich bei ihr natürlich zusammengenommen und mich erst gehenlassen, als ich zu Hause war. Er stand mir immer vor Augen, so wie er bei unserer letzten Abendgesellschaft ausgesehen hat.»
Charles schüttelte bedrückt den Kopf und fragte, wie Charlotte die Nachricht aufgenommen hatte.
«Sie ist natürlich völlig verzweifelt. Caspar war so gut aussehend ... so aktiv, so... so...»
«Die Ärzte meinen aber, daß er überlebt?»
Mildred hob die Augenbrauen, was ihr Gesicht zu einer verzerrten tragischen Maske verunstaltete. «Er hat sich von dem Schock erholt. Zum Glück hat er keinen Wundbrand. Soweit möglich, sieht es günstig aus. Morgen bringen sie ihn nach England zurück.»
Charles fragte, wie Andrew die Nachricht aufgenommen habe.
«Ach, du kennst doch Andrew. Wie immer, stark, schweigsam. Er meinte nur, zumindest brauchten sie nicht zu trauern. Wie man hört, sind die Verlustlisten schrecklich. Gott sei Dank ist William erst vier Jahre alt. Ich könnte es nicht ertragen ...»
Charles tat sein Bestes, sie zu trösten.
»Aber eins ist fast wie ein Wunder...» fing Mildred an.
«Ja, was?»
»Sein Bursche hat ihm das Leben gerettet. Und weißt du, wer es ist? Martha Crooks Sohn Billy. Und Martha Crook hat mein Leben gerettet und William Arthur zur Welt gebracht in Redhill.»
«Ich wußte nicht, daß der Junge schon alt genug ist, um zu dienen...»
«Alt genug? Keiner von ihnen ist alt genug, aber alle sind tapfer genug.» Sie berichtete Charles, daß Billy den schwerverwundeten Caspar im Kugelhagel zwei Kilometer zum Verbandsplatz geschleppt hatte. «Er ist bereits wieder in England. Sie schicken ihn in ein Ausbildungslager, damit er Feldwebel werden kann, hat Giles mir gesagt. Anscheinend, aber das ist noch nicht offiziell, soll Billy mit dem Viktoriakreuz ausgezeichnet werden.»
Charles konnte das Bild des jungen, verstümmelten Caspar nicht aus seinen Gedanken verbannen, was unerklärlicherweise seine Gewissensbisse verstärkte.
«Bleibst du zum Abendessen?» fragte Mildred. Und der wahre Grund seiner Schuldgefühle drängte sich jetzt voll in sein Bewußtsein. Er zögerte, wußte aber sogleich, daß eine Umkehr nicht mehr möglich war. Mit ruhiger Stimme antwortete er, daß er wieder fortmüsse. Sie stellte ihm keine Fragen, weil sie genau wußte, daß seine Tätigkeit keine Erklärungen erlaubte.
Charles wußte fast noch vor Madeline Drews Verhaftung, was mit ihnen beiden geschehen würde. Und damit war sein Leben noch gefährlicher, noch undurchsichtiger geworden.
Nach der Rückkehr aus Cromer wurde
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