Eine ehrbare Familie
Am Anfang der letzten Septemberwoche begleitete er Charles mehrmals nach Maida Vale und blieb oft stundenlang. Gemeinsam instruierten sie Madeline, gaben ihr Namen von Vertrauensleuten, machten Signale aus, falls der deutsche Geheimdienst mit ihr in Verbindung träte, und nannten ihr zwei Adressen, an die sie schreiben, telegrafieren oder zu denen sie flüchten konnte, falls sie in Gefahr war.
Den 26. und 27. September sollte sie im Hotel Carlton in London verbringen, vorgeben, auf jemand zu warten, und dann den Zug nach Coventry nehmen. «Diese zwei Tage brauche ich», sagte Kell, «um die kleine Gruppe zu testen, die Sie beschützen soll. Gehen Sie also aus, und verhalten Sie sich normal.»
Sie saßen in dem kleinen Wohnzimmer, in dem Charles und Madeline sich zum ersten Mal geküßt hatten. Die Bäume im Garten waren inzwischen fast kahl. Kell nickte ihr aufmunternd zu. «Railton wird Sie an Ihrem letzten Abend aufsuchen.» Charles sah ein rasches Aufflackern in ihren Augen, als sein Vorgesetzter irrtümlich seinen richtigen Namen gebrauchte. Es lag etwas von Wiedererkennen, ja sogar von Besorgnis darin. Doch die nächsten Tage waren so hektisch, daß Charles den Zwischenfall vergaß.
Am 27. September, am Vorabend von Madelines Abfahrt nach Coventry, kam Charles gegen sieben Uhr abends ins Carlton, wo er sich im Restaurant mit ihr verabredet hatte. Sie sprachen über den Krieg, wandten sich aber bald erfreulicheren Themen zu.
Nachdem sie ihr Essen beendet hatten, verabschiedete sich Madeline. Charles beglich die Rechnung und ging zehn Minuten später. Als er sicher war, daß niemand ihn beobachtete, schlüpfte er über die Dienstbotentreppe in den vierten Stock, wo ihr Zimmer lag.
Sie liebten sich mit einer Verzweiflung, als ginge morgen die Welt unter. Der Raum lag fast im Dunkeln, die Vorhänge waren nicht zugezogen und das dämmrige Licht des kühlen Septemberabends verwandelte die Möbel allmählich in drohende Schatten. Charles lag auf dem Rücken, und Madeline, auf einen Arm gestützt, starrte in der verschwommenen Dunkelheit in sein Gesicht.
«Charles?» Der fragende Tonfall ließ ihn den Kopf wenden. «Versprich mir, daß man mich bewacht und beschützt.»
«Natürlich.» Er legte den Arm um ihren Hals. «Solange du tust, was wir dir sagen.» Er rückte näher an sie heran. «Madeline, bitte mach keine Dummheiten.»
«Sei nicht töricht, wie...?»
Er verschloß ihr sanft den Mund mit der Hand. «Ich muß dich warnen, Liebling, daß meine Vorgesetzten vor nichts haltmachen, falls du welche machst. Und auch ich könnte dir dann nicht helfen. Sie würden dich finden, wo immer du dich auch versteckst. Ich kenne einige, denen es so ergangen ist. Und wenn du ins Ausland fliehst, endest du mit aufgeschlitzter Kehle.»
Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. «Nicolais Leute können auch brutal sein. Mach dir keine Sorgen, Charles, ich werde nichts riskieren, denn eines Tages möchte ich mit dir Zusammenleben.»
Schuldgefühle stiegen ihm wie Galle im Hals hoch. Er schwieg und dankte Gott, daß er ihr nicht in die Augen sehen mußte.
«Willst du das nicht auch, Charles?»
«Natürlich.» Aber er wußte, seine Stimme klang nicht überzeugend. Er war dieser Frau zwar hörig, aber er würde Mildred nie verlassen.
Lange Zeit herrschte Schweigen in dem Raum mit seinen drohenden Schatten.
«Du heißt mit richtigem Namen Railton, nicht wahr? Charles Railton und nicht Charles Rathbone.»
Er gab es zu. Eigentlich sollte sie es nicht wissen. «Mein Vorgesetzter hat neulich aus Versehen meinen richtigen Namen genannt.»
Er sah, daß sie nickte. «Ich habe den Namen in einem anderen Zusammenhang gehört.»
«Ach.»
Sie fragte ihn, ob er eine Schwester oder Kusine habe. «Jemand, der mit einem Franzosen verheiratet ist, der so ähnlich wie Greenot oder Graneau heißt?»
«Ja, meine Kusine Marie. Aber warum willst du das wissen?»
«Mir kam der Name bekannt vor. Ich habe ihn schon gehört, und wußte aber nicht mehr wo. Und dann gestern abend fiel es mir plötzlich wieder ein. Es ist komisch, nicht wahr, wie das Gedächtnis sich alles notiert, man braucht nur die richtige Seite aufzuschlagen.»
Er wartete schweigend, bis sie fortfuhr. Von draußen drang der Lärm des Verkehrs bis zu ihnen.
«In «Nummer 8> in Berlin - ich habe dir davon erzählt - arbeitete ein Mann namens Steinhauer.»
«Was ist mit Steinhauer?» Alle Zärtlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden, sein ganzes Denken
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