Eine ehrbare Familie
konzentrierte sich auf den Namen, den er so gut kannte. Er war oft in Verbindung mit dem Friseurladen in der Caledonian Road aufgetaucht.
Er hörte, wie sie tief Atem holte. «Ich erinnere mich, daß ich an einem Nachmittag in «Nummer 8> war, wir haben Landkarten studiert. Major Nicolai kam herein. Er war in sehr guter Laune. Als meine Informationsstunde vorbei war, fragte er mich, ob ich mit ihm zu Abend essen wollte. Ich sagte zu.
Wir waren bereits im Gehen, als Steinhauer durch die Eingangstür kam. Er muß ein wichtiger Mann sein, denn der diensthabende Unteroffizier nahm Haltung an und schlug die Hacken zusammen. Du weißt, wie formell die Deutschen sind.»
«Ja.» Er hatte das Gefühl, daß gleich ein Gewitter über seinem Kopf losbrechen würde.
«Nun, dieser Steinhauer sagte, er müsse dringend mit dem Major sprechen. Er grinste triumphierend.»
»Ja, weiter.»
«Sie baten mich, in dem schmalen Korridor vor Nicolais Büro Platz zu nehmen. Versehentlich ließen sie aber die Tür offen, so daß ich alles hören konnte. Aber Charles, es war so ein seltsames Gespräch, es ergab keinerlei Sinn für mich. Dennoch erinnere ich mich noch an jedes Wort.»
Charles fragte, was das alles mit seiner Kusine Marie zu tun hätte.
«Steinhauer sagte, er hätte eben gerade eine höchst erfreuliche Nachricht erhalten. Hirsch, der Sekretär des Pariser Militärattaches, hätte sich wieder gemeldet und gesagt, er sei nicht ganz sicher, aber er habe das Gefühl, Madame Marie Grenot- ich weiß jetzt den Namen wieder - würde mit ihm Frankreich verlassen und nach Berlin kommen. Nicolai bemerkte spöttisch, daß dieser Hirsch auch eine Nonne verführen könnte, wenn er unbedingt wolle, woraufhin Steinhauer sagte, daß diese Madame Grenot offensichtlich sterblich verliebt in Klaus von Hirsch sei.»
Charles sah alle seine schlimmsten Vorahnungen bestätigt, und eine große Traurigkeit ergriff ihn. Nicht nur weil er sich von Madeline trennen mußte, sondern vor allem, weil seine Kusine Marie einen großen Familienskandal heraufbeschworen hatte.
Charles hatte Marie immer besonders gemocht. Er erinnerte sich an ihr sprudelndes, südliches Temperament, das sie von ihrer französischen Mutter geerbt hatte, an ihre etwas männliche Art, in der sie ein Zimmer betrat. Sie war fast zwei Jahre jünger als er, und als er siebzehn war, hatte er seine ersten täppischen Zärtlichkeiten an ihr ausprobiert - wie es so oft zwischen Vettern und Kusinen geschieht. «Erzähl weiter», sagte er zu Madeline.
«Nun, und dann wurde dein Name erwähnt. Nicolai sagte, diese Nachricht sei tatsächlich erfreulich. Sein nächstes Wort weiß ich noch auswendig. «Ihnen ist vermutlich klar, mein lieber Steinhauer, daß Madame Grenot eine geborene Railton ist. Und Sie wissen, wohin uns das führen kann: mitten hinein in den britischen Geheimdienst.> Steinhauer sagte, man müsse geschickt mit ihr umgehen, und Nicolai antwortete: Und dann haben beide laut gelacht.»
Madeline spürte, daß ihre Geschichte Charles sehr getroffen hatte, und sie versuchte, ihn zu beruhigen. Aber erst auf dem Heimweg wurden ihm die vollen Ausmaße seines Dilemmas klar. Von Rechts wegen hätte er diese höchst wichtige Information sofort an Vernon Kell weitergeben müssen. Aber das hätte ein Kreuzverhör bedeutet. Und Charles war sich gar nicht sicher, ob er in seiner jetzigen Verfassung Kells gezielten Fragen standhalten könnte. Die andere Möglichkeit war, sich seinem Onkel Giles, Maries Vater, anzuvertrauen, unter dem Motto, es sei schließlich in erster Linie eine Familienangelegenheit. Aber er brauchte achtundvierzig Stunden, bis er sich zu diesem Schritt entschloß.
Am Abend des 29. September besuchte Giles Railton seinen Enkel Caspar im Krankenhaus. Seine Gedanken waren nicht völlig auf diese schwierige Aufgabe eingestellt, denn er hatte einen langen und überraschungsreichen Tag hinter sich.
Am Morgen, als er ins Büro ging und an den bevorstehenden Besuch bei Caspar dachte, wußte er noch nicht, daß er bereits einen Enkel verloren hatte. Der junge Paul, Sohn von Marie und Marcel Grenot, Bruder von Denise, war vor zwei Wochen in der Nähe von Sombre gefallen.
Als er das Außenministerium betrat, fand Giles seinen Neffen Charles vor, der auf ihn wartete. «Tut mir leid, aber ich konnte ihn nicht einfach fortschicken», sagte Roy. Giles nickte.
Charles kam sofort
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