Eine eigene Frau
Schnee.
Joel packt den Jungen, der ihm am nächsten steht, am Kragen.
»Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt ihn in Ruhe lassen, verdammt noch mal.«
Die Jungen lassen ihre Schneebälle fallen und rennen hintereinander her den Humppila-Hügel hinunter. Kustaa wischt sich den Schnee von den Kleidern und wirft Joel einen dankbaren hündischen Blick zu. Joel ärgert sich über die Unterwürfigkeit. Warum, zum Kuckuck, wehrt sich so ein kräftiger Kerl nicht gegen welche, die kleiner sind als er? Kustaa ist ja eigentlich kein Trottel, er kann wahrscheinlich schon lesen, seit er vier ist. »Wenn unser Junge mit dem Schädel nicht das Lesen lernt, dann lernt er’s auch mit etwas anderem nicht«, pflegte der alte Vuorio zu prahlen. Joel weiß noch, wie der Alte sich bog vor Lachen über seinen Erfindungsreichtum. Da hatte er es all denen aber gegeben, die seinen Sohn als Wasserkopf verspotteten!
Lammfromm trottet Kustaa hinter Joel her. Der Schwellkopf hüllt seine Traurigkeit in Lächeln und Schweigen. Kustaa hat einen großen, schulterlosen Rumpf, den er schwerfällig vorwärtsbewegt wie einen riesigen, unförmigen Sack.
»Wo geht’s hin?«, will Joel wissen.
»Irgendwohin.«
Auch Joel hat kein bestimmtes Ziel, aber nach dem Abendkaffee muss er einfach hinaus, ins Freie, irgendwohin. Schnee wirbelt auf, denn vom Meer her weht ein kalter Wind. Er dringt durch die Jacke, zwingt einen, alle Knöpfe bis zum Hals zu schließen und die Hände tief in die Taschen zu schieben.
Joel bleibt beim Saunahäuschen stehen, lehnt sich an die Wand und versucht mit klammen Händen eine Zigarette anzuzünden, den Blick hält er dabei auf die Fenster der Mietskaserne gerichtet. Mein geliebtes Zuhause, links von der Backstube, nach der hinteren Treppe die zweite Tür rechts, ein Zwei-Zimmer-Reich für sechs Personen. Früher war es ihm nicht so eng vorgekommen, aber jetzt kommt es ihm so vor. Die große Schwester brabbelt wie eine Idiotin mit ihrem Bräutigam, die Jüngeren zanken unentwegt, und der Vater liest quälend langsam aus der alten Zeitung vor, deren Inhalt Joel längst auswendig kennt:
»Mit dem Nobelpreis für Physik wurden ausgezeichnet … Pierre und … Marie Curie.«
»Das muss man sich mal vorstellen, eine Frau!«
An diesem Abend durfte die Familie auch endlich hören, dass Präsident Roosevelts Ansicht nach die Vereinigten Staaten nicht an der Revolution in Panama schuld sind und die finnisch-nationalen Studenten nicht am Beschmieren des Runeberg-Denkmals mit faulen Eiern.
»Gendarme besudeln auf Befehl ihres Vorgesetzten Schriftstellermonument«, las der Vater vor, und die Mutter lamentierte darüber, dass man die schönen Hühnereier habe faul werden lassen.
»Man sollte meinen, dass es dafür sinnvollere Verwendung gegeben hätte, in diesen Zeiten des Mangels!«
Joel versuchte dazwischenzufragen, ob der Vater finde, man müsse Roosevelts Aussage so interpretieren, dass damit ein ganz neues völkerrechtliches Prinzip formuliert worden sei, demzufolge Ländergrenzen jederzeit neu gezeichnet werden könnten und der große Nachbar sich unbehelligt in die Angelegenheiten kleiner Länder einmischen durfte, wenn er es gerade für notwendig erachte.
Die Eltern sahen ihn verdattert an, setzten dann aber ihre gemeinsame Erörterung der Herkunft und des Verdorbenheitsgrades der Hühnereier, die auf dem Denkmal gelandet waren, fort.
Neuerdings fällt es Joel immer schwerer, seinen Ärger für sich zu behalten. Alles, was in der Zeitung steht, wird gelesen und man regt sich gemeinsam darüber auf, aber wenn es Zeit zum Handeln wäre, duckt man sich wie Kustaa vor den Schneebällen der kleinen Jungen. Man kuscht und hofft auf ein eigenes Zimmer mit Ofen und findet sich mit allem ab, wenn man nur die größere Wohnung auf der anderen Seite der Backstube bekommt, wo die alte Alén gewohnt hat. Alles andere ist schnurz, da drüben wartet der Himmel auf Erden.
Joel reicht den Zigarettenstummel an Kustaa weiter, der dankbar die letzten Züge macht.
»Aber was rege ich mich hier so auf«, sagt Joel laut. »Meine Verdienste für das Wohl der finnischen Werktätigen sind auch schnell aufgezählt.«
»Nein!«, widerspricht Kustaa, ohne zu verstehen, worauf sich Joels Ärger richtet. Kustaa findet, dass keiner mit so deutlichen Worten über die Unvermeidlichkeit des Sozialismus und die Bedeutung der Zusammenarbeit redet wie Joel.
Ja, reden, reden, das geht bei ihm wie am Schnürchen. Wenn er manchmal auf einer Versammlung
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