Eine eigene Frau
Luft geblasen hat.
Der noch immer etwas beleidigte Joel sagt, er habe an Schlitten und Rucksack gedacht, im Sommer an einen Handwagen. Letzten Endes hänge es von jedem selbst ab, mit welchem Gerät er die Arbeit erledigen wolle. Aber er, Joel, habe ganz und gar nicht vor, jemanden gegen dessen Willen zu etwas zu zwingen.
Sakari muss lachen.
»Jetzt entscheide dich mal, mein Lieber.«
»Was soll ich entscheiden?«
»Na, ob du die Schnecke willst oder nicht.«
Vartsala, 21. April 2009
Habe ich schon erwähnt, dass ich das Haus, in dem ich mit meiner Frau Aila gelebt hatte, bloß mit dem Fahrrad verließ? Nicht auf einem romantischen Drahtesel, sondern auf einem hochwertigen Hybrid-Rad Marke Corratec, das ich wenige Jahre zuvor im Großhandel gekauft hatte, zusammen mit praktischen Satteltaschen und sonstigem Zubehör. Nachdem ich das Rad erworben hatte, überließ ich Aila den Toyota und radelte das ganze Jahr hindurch zur Arbeit, wenn die Termine nicht unbedingt den Wagen erforderlich machten. Im Urlaub fuhr ich Radtouren. So kamen pro Jahr 3000 bis 4000 Kilometer zusammen.
Nun führte die erste Etappe meiner gut hundert Kilometer langen Route von Ylöjärvi über Lempäälä, Viiala und Urjala nach Forssa, wo ich in einem Hotel übernachtete. Am nächsten Morgen hinterließ ich an der Rezeption einen Brief, mit der Bitte, ihn bei der Post aufzugeben. Er war an das Standesamt Tampere adressiert und enthielt den Scheidungsantrag, den ich am Vorabend ausgefüllt hatte.
Am folgenden Tag fuhr ich durch den Nationalpark Torronsuo. Die Prospekte bewerben ihn als wilde Perle, wo der Wanderer die finnische Natur in ihrem Urzustand erleben könne. Wie als Bestätigung der Reklame erblickte ich mitten in der ebenen Sumpflandschaft einen Trupp Kraniche beim Rasten während des Frühjahrszugs. Die Vögel schrien und tänzelten mit ausgebreiteten Flügeln umeinander herum. Die Sonne brannte vom Himmel. Ich musste das Halstuch, das ich von meinem Sohn Jimi zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, abnehmen und mir als Schweißband über die Stirn binden.
Das Tuch ist mit den Logos aller finnischen Nationalparks bedruckt, auch mit dem von Torronsuo. Jimi hatte meine sommerlichen Fahrradtouren wohl als leidenschaftliches Interesse für die Natur interpretiert, weshalb ich mir ein bisschen wie ein Schwindler vorkam und mich entsprechend schämte. Mein endgültiger Abgang musste dem Jungen vorkommen wie ein Rückzug in die Natur à la Thoreau. Ließ ich doch mein selbstgebautes, gutes Backsteinhaus in Stadtnähe, in dem ich 20 Jahre lang gewohnt hatte, zurück und zog in eine Hütte im Wald. Zweifellos war das für ihn eine Form des Verrücktwerdens. Ich weiß nicht, was er gedacht hätte, wenn ich ihm anvertraut hätte, wovon ich tatsächlich besessen war. Ich blickte auf mein lautlos gestelltes Handy. Von Aila waren im Lauf des Tages fünf Anrufe und zwei SMS gekommen. Ich antwortete mit wenigen Zeilen.
Von Somero aus wählte ich die Strecke, auf der am 13. Mai 1918 mehr als 50 Rote oder Männer, die man für Rote hielt, ihrem Massengrab entgegenmarschieren mussten, das in Märynummi, einem Dorf der Gemeinde Halikko, ausgehoben worden war. Von einem der Männer hieß es, er sei bereits unterwegs ums Leben gekommen, während des langen Marsches auf der schönen Straße entlang des Flusses. Mindestens einem gelang die Flucht. Die übrigen 50 wurden in Gruppen zu je zehn erschossen.
In Halikko fuhr ich einen kleinen Umweg über Märynummi, um das Denkmal der »für ihre Überzeugung Gefallenen« hinter dem psychiatrischen Krankenhaus zu besuchen. Zuletzt hatte ich den Stein vor 47 Jahren gesehen, im Alter von sieben Jahren. Mamu hatte mich zum Preiselbeerpflücken dorthin mitgenommen, wo sie schon in ihrer Kindheit in den Beeren gewesen war.
Ich lebte damals bei meinen Großeltern in Turku. Opa und Mamu kümmerten sich um mich seit meinem zweiten Lebensjahr, nachdem ihre jüngste Tochter, meine Mutter Helena, an Krebs erkrankt war. Als meine Mutter starb, war ich vier. Mein Vater war mit einer anderen Frau verheiratet, und so blieb ich in der Obhut meiner Großeltern.
Die herbstliche Preiselbeerfahrt ist mir all die Jahre in Erinnerung geblieben, eben wegen des Mahnmals für die im Bürgerkrieg Hingerichteten. Bevor wir an die Stelle kamen, war der Tag das reinste Vergnügen gewesen, wie immer, wenn ich mit Mamu unterwegs war.
Ich weiß noch genau, wie sie an jenem Tag angezogen war. Sie trug eine helle Steppjacke und
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