Eine eigene Frau
Aber Mamu blieb weiterhin sonderbar still, und zu meiner Verwunderung bestellte sie uns ein Taxi. Noch seltsamer war, dass wir damit nicht nach Turku fuhren, wo wir wohnten. Das Taxi brachte uns mitsamt den Preiselbeereimern nach Vartsala und dort zum Häuschen von Onkel Arvi.
Mich ließ man draußen, um den Hund zu streicheln, aber weil das Küchenfenster einen Spaltbreit offenstand, hörte ich, wie Mamu dem Alten zusetzte. Was sie sagte, verstand ich nicht. Sie sprachen ihre Geheimsprache, Schwedisch.
Am Abend, als sie glaubten, ich schliefe schon, schüttete Mamu Großvater ihr Herz aus, der sie so gut er konnte beruhigte. Mamu sagte, Arvi habe felsenfest behauptet, er sei es nicht gewesen, aber irgendwie müsse er sich verplappert haben, weil der Junge eindeutig etwas wisse. Was genau dieses Etwas sei, müsse herausgefunden werden. Mamu wirkte sonderbar gequält und sagte einen Satz, den ich überhaupt nicht verstand.
»Ich lasse mir von niemandem unsere Familie zerstören!«
Großvater beruhigte sie und behauptete, die Hippe existiere gar nicht mehr, und niemand stochere in so alten Sachen herum. Der Junge sei nur hingerannt, um zu lesen, was auf dem Denkmal stehe. Er lese ja auch sonst alles, was ihm begegne. Großvater fand, dass Mamu sich etwas einbilde, weil ihr die Geschichte dauernd im Kopf herumgehe.
Die Geschichte? Ich begriff nicht, über welche Geschichte sie redeten, ich wusste auch nicht, was eine Hippe war, aber es musste etwas Entsetzliches sein, weil sogar Mamu, auf die man sich felsenfest verlassen konnte, außer sich war.
»Ich sage bloß eins: Kein Schwätzer wird uns daran hindern, für den Jungen dazusein, solange er uns braucht.«
Mamus aufgeregte Worte jagten mir Angst ein. Lange hatte ich Albträume, in denen ich von Gespenstern mit schwarzen Kapuzen weggeschleift wurde. Oder sie nahmen Opa und Mamu mit. Auch das riesige Denkmal, das mich so unwiderstehlich angezogen hatte, spukte in diesen Träumen herum.
Als mein Großvater ein Jahr nach jener Fahrt in die Beeren starb, wurde der Albtraum für mich wahr. Die Geister hatten ihn bekommen. Ich trauerte sehr um ihn, aber noch mehr quälte mich die Angst, ich könnte auch Mamu an die Geister verlieren. Nach und nach überzeugte sie mich jedoch davon, dass ihr keine Wesen aus der Geisterwelt, ja nicht einmal der Sensenmann, etwas anhaben konnten.
Irgendwie gelang es ihr mit der Zeit, die Angst, die mich plagte, durch Reden und schließlich auch durch Lachen zu vertreiben. Während sie mich tröstete, trauerte sie unentwegt um Großvater. Das gute Verhältnis, das die beiden miteinander gehabt hatten, war für mich als Kind eine sichere Selbstverständlichkeit gewesen. Später und vor allem in der Zeit, als ich in meiner Ehe litt, begriff ich, wie sehr Mamu ihren Mann liebte.
Inzwischen ist mir bewusst, was für eine große Kraftanstrengung es für sie bedeutete, bereits zum zweiten Mal große Trauer vor mir zu verheimlichen. Ich selbst kann mich kaum an meine Mutter erinnern, sie glitt einfach irgendwie aus meinem Leben hinaus. Ich weiß aber, dass der Verlust der Tochter für meine Großeltern eine schrecklich schwere Prüfung gewesen war, trotzdem überschattete keinerlei düstere Stimmung meine frühe Kindheit.
Später in der Pubertät erfuhr ich, dass man das Denkmal von Märynummi 1940 aufgestellt hatte, zur Zeit des Interimsfriedens, als die Linke nach der Einmütigkeit des Winterkrieges endlich öffentlich über ihre Toten im vorigen Krieg trauern durfte. Ich wusste, dass Großvater und Mamu im Bürgerkrieg von 1918 nahe Angehörige verloren hatten. Ich erinnerte mich an das Ereignis von damals, und die kindliche Vorstellung von in der Erde versteckten Schätzen war mir als jungem Kerl fast peinlich. Natürlich befand sich unter dem Stein keine mysteriöse Höhle des Wandelnden Geistes.
Erst seit ich in den letzten Jahren die Broschüren, Fotos und Briefe, die aus dem Nachlass meiner Großeltern erhalten geblieben sind, untersucht habe, bin ich immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass das Verhalten meiner Großmutter an jenem Tag vor dem Denkmal in Märynummi nicht allein von großer Trauer oder Bitterkeit herrühren konnte. Angesichts ihres Charakters war die Reaktion durch und durch außergewöhnlich gewesen. Und ich habe mich fragen müssen, was um Himmels willen meine bis zum Schluss ungebrochene Großmutter an jenem Herbsttag vor diesem Gedenkstein so sehr erschreckt hatte.
Mit der Zeit habe ich verstanden, dass
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