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Eine eigene Frau

Eine eigene Frau

Titel: Eine eigene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Lander
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setzten wir jedoch auf die gewohnte Art fort. Ich saß an der Seite meines Großvaters, während er mir laut vorlas. Wie viel ich mir auch darauf einbildete, dass ich jetzt lesen konnte, so schenkte mir die Welt der Comics ohne die Stimme meines Großvaters und seine raue Wolljacke, an die ich mich immer drückte, doch nicht annähernd so viel Befriedigung.
    Ich wollte nicht dazu übergehen, die Comics für mich allein zu lesen, aber sonst brachte ich laut krähend alles, was irgendwo geschrieben stand, ins allgemeine Bewusstsein, sei es auf den Milchpackungen, an den Fenstern des Lebensmittelladens oder den Reklameaufklebern an den Rückenlehnen der Sitze in der Straßenbahn, die damals das letzte Jahr in Turku verkehrte. Meine stolzen Großeltern wurden nicht müde, meine Fähigkeiten zu bewundern, gerade so als wäre es nicht vollkommen normal, im ersten Schuljahr lesen zu lernen, sondern ein Zeichen für ein außerordentliches kindliches Genie.
    Als ich auf dem interessanten großen Stein Wörter entdeckte, musste ich unbedingt herausfinden, was da für eine geheime Botschaft eingemeißelt war. In dem Moment, in dem wir an dem Eingang in der Umzäunung vorbeigingen, rannte ich los, geradewegs zum Denkmal. Mamu rief mir hinterher, ich solle stehen bleiben, aber ich hörte nicht.
    Ein Schwarm Dohlen flog von dem Stein auf. Auch die Höhle des Phantoms wurde von treuen Vögeln bewacht, die vor Eindringlingen warnten. In den Augen eines Kindes war der Stein aus rotem Granit gewaltig. Aber erst als ich die Worte las, die hineingehauen waren, richteten sich vor Aufregung die Härchen an meinen Armen auf.
    Denkmal. Das teuerste Opfer dem Ideal.
    »Denk mal!« Ich wurde aufgefordert, mir von allen Opfergaben der Welt die kostbarste vorzustellen. Würde mir das gelingen, bekäme ich den Schatz für mich allein. Mit ziemlicher Sicherheit würden wir unheimlich reich werden, Mamu würde den Führerschein machen können und wir würden uns das Auto kaufen, von dem mein Opa träumte. Vor meinen Augen funkelten Diamanten, Goldmünzen und Tiefseeperlen im Licht brennender Fackeln in einer Höhle. Ich hatte bereits die Welt des Wandelnden Geistes betreten, als Mamu es endlich bis zu mir geschafft hatte.
    Begeistert versuchte ich ihr zu erklären, wie ich das Geheimnis des Steins lösen und uns durch den Reichtum, den die teuren Opfergaben brächten, von allen irdischen Sorgen erlösen würde, aber entgegen meiner Erwartung legte Mamu nicht die geringste Freude an den Tag. Stumm und ohne ein Lächeln starrte sie mich an.
    Ich verstand nicht, warum sie sich so versteifte, aber zunächst trug ihr Verhalten dazu bei, den Zauber des Ortes noch zu verstärken. Bestimmt entsetzten sie die fürchterlichen Flüche, die in dem Felsen verborgen waren, Flüche, die schon Grabräuber in den Tempeln der Inkas und in den Grabkammern der Pharaonen getötet hatten. Ich erklärte ihr, der Wandelnde Geist würde uns nichts tun, schließlich beschütze er die Guten.
    »Von was für Geistern sprichst du da eigentlich, mein Kind?«
    Sie schien nichts vom Wandelnden Geist zu wissen, der das Phantom und seine Getreuen wie mich schützte. In Mamus Augen war ich wohl noch immer der kleine mutterlose Junge, der beschützt werden musste. Ich quengelte, man müsse einen Spaten holen und anfangen zu graben. Vermutlich sah sie mich voller Entsetzen schon mit dem Spaten auf der Schulter zur Begräbnisstätte gehen, um mich zwischen die dort ruhenden Toten zu buddeln.
    »Hab keine Angst, Mamu! Mir passiert nichts.«
    Sie ging vor mir in die Knie und nahm mich fest bei den Schultern. Ihr Gesichtsausdruck war fremd, ungewöhnlich. Zum ersten Mal in meinem Leben fürchtete ich mich in ihrer Nähe. Das Spiel hatte sich in etwas verwandelt, das ich nicht verstand.
    »Wer hat dir von diesem Ort erzählt? Onkel Arvi?«
    »Nein, ich …«
    »Wer dann? Sag es der Mamu, mein Kind!«
    Ich war nicht in der Lage, ihr eine vernünftige Antwort zu geben. Tränen der Erschrockenheit traten mir in die Augen, und Mamu beendete ihr aussichtsloses Verhör. Sie entschuldigte sich und verwuschelte mir die Haare mit so hilfloser Miene, dass es mir zu Herzen ging. Still verließen wir das Mahnmal.
    Auf dem Weg zur Bushaltestelle machten wir einen Abstecher zum Gemischtwarenladen in der Ortsmitte. Dort kaufte mir Mamu ein rundes Vanilleeis am Stiel und ein Zitronensoda. Nachdem ich den Verschluss der Flasche aufgerissen und das Zischen gehört hatte, verflog mein Kummer allmählich.

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