Eine eigene Frau
hat der September schon lange nicht mehr angefangen.«
»Stimmt.«
Joel muss Sakari nun auch noch anvertrauen, dass die geplanten Neuerungen an der Maschine natürlich das Lebendgewicht des Fräuleins erhöhen. Andererseits wird die Gesamtfläche der Tragflügel unweigerlich geringer. Aarno macht sich auch deswegen keine Sorgen. In der Praxis bedeutet das lediglich, dass der Flieger noch leichter sein muss als in den ursprünglichen Berechnungen vorgesehen.
So, so, stellt Sakari fest, darum also verlange der Direktor von seiner Haushälterin, ihm die Essensportionen zu halbieren.
Für Joel ist diese Information eine unschöne Überraschung. Aarno hege in puncto Gewichtsabnahme noch immer Hoffnungen?
»Höchstwahrscheinlich.«
Ihre Blicke begegnen sich.
»Und wie viele Kartoffeln dürfen es für Herrn Tammisto sein? Sind drei recht?«
»Zwei genügen.«
Sakari schiebt Joel einen Teller hin und tut sich selbst Strömlinge und Kartoffeln auf.
Joel fällt ein, dass Sakari erzählt hat, er habe einen Brief von seiner Mutter erhalten.
»Sind die Kinder und Oma Salin gesund?«
Sakari nickt und kämpft mit einer Gräte. Das Mädchen scheint sich nur zu wundern, warum es von seinem Vater nichts hört und sieht. Hat angeblich seinen Papa schon neben der Mama als Engel auf einer Wolke sitzen sehen.
Joel schüttelt den Kopf und schaut durchs Fenster auf eine vorüberfahrende Strohfuhre. Der Wind reißt Halme heraus und schleudert sie durch die Luft. Von einer Ecke der Scheune fällt ein Schwarm Spatzen wie große graue Tropfen auf die Getreidereste, die auf den Straßenrand gerieselt sind. Das Pferd setzt mit seinem Anhänger gemächlich seinen Weg fort und verschwindet langsam im grauen Nebel.
Hat Sakari je daran gedacht, sich wieder mit einer Frau zu verheiraten?, will Joel wissen.
Sakari weicht dem Blick des Freundes aus, als wäre er bei einer schlimmen Tat ertappt worden, und stopft sich einen ganzen Strömling auf einmal in den Mund. Eine Weile sitzen sie beide stumm da.
Wie komme er auch dazu, jemanden zu überreden, meint Joel. Um ihn herum seien alle, für die er hätte Sorge tragen müssen, zugrunde gegangen. Er schiebt den Teller zur Seite und nimmt die Ausgabe der Volkszeitung zur Hand, die vom Mord an dem französischen Sozialistenführer Jean Jaurès berichtet. In seinem Testament appelliert er an die internationale Sozialdemokratie, sie solle darüber wachen, dass ihre Friedensbotschaft sich überall verbreite, zum Kampf für die Befreiung der Menschheit. Vor allem gegen ihren Feind, den völkermordenden Kapitalismus.
Selbstverständlich hat Jaurès recht, denkt Joel und spürt Wut in sich aufflammen. Es ist nicht die betäubende Bitterkeit, wie er sie kennt, seit man ihn über die Endgültigkeit von Hilmas Krankheit ins Bild gesetzt hat, und es ist auch nicht der Schmerz der groben Selbstanklage, der in ihm loderte, als sein Erstgeborener leblos in seinem Bett lag, den Mund sperrangelweit offen und in den blauen Augen ein erstaunt starrender Blick. Nein, die Wut, die er jetzt hat, saugt seine Lebenskraft nicht aus, sondern nährt sie.
»So ist das, du, wenn man den Ausbeutern auch noch nachgibt, dann stehen dem Teufel Tor und Tür offen.«
Sakari fragt, ob Joel vorhabe, mit dem Flugapparat von Herrn Aarno den arbeitenden Teil der Bevölkerung zu retten.
Joel schweigt. Sakari wendet sich ab und sieht aus dem Fenster, er kratzt sich am Kinn, das von dichten, dunklen Stoppeln übersät ist. Er sagt, er überlege sich lieber, wie es gerade jetzt in Vartsala aussehe. Dort ist es sicher verdammt schlammig. Was meint Joel, ob Sundberg es übers Herz gebracht hat, die Straße den Hügel hinauf und die verdammt rutschige Stelle an der Ecke des Puustelli-Hauses mit Sand aufzuschütten, damit die alten Weiber sich nicht die Beine brechen und die Gören sich nicht die Köpfe aufschlagen, wenn der Boden vereist?
»Was meinst du? Hat er?«
Saida, 18
Vartsala, Oktober 1914
Nachdem er von der Arbeit zurückgekehrt ist, bleibt Lauri Lindroos auf eine heimliche Zigarette hinter seinem Vater an der Hausecke zurück. Er kann es sich nicht verkneifen, vor Saida, die auf der Schaukel sitzt, damit anzugeben, dass er jetzt endlich auch Bretter tragen darf. Mit den kräftigen Männern. Falls es ihm von zu Hause aus erlaubt wird, natürlich. Er erzählt, die Männer hätten schon vor einiger Zeit gesagt, da bei ihm der Wipfel nun mal höher gewachsen sei als bei vielen anderen, könne er gut und gern mithalten und
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