Eine eigene Frau
Wimmern. Saida schenkt weder Paul noch Arvi die geringste Beachtung. Sie starrt Anders ins erbleichte Gesicht und wartet auf eine Antwort.
Der Junge atmet schwer und kann sich nicht mehr behaupten. Er geht in die Hocke, als habe ihn ein Schlag getroffen, und so kauert er auf dem Felsen, die Hände zwischen den Beinen und den Kopf auf den Knien, um zu verbergen, was mit ihm los ist.
Saida hat keine Ahnung, warum der Junge vor ihr zusammengesunken ist. Erstaunt, aber bemüht, mit allen Gesten möglichst stolze Verachtung auszudrücken, wendet sie sich ab und geht nackt auf den Weg zu, der zum Herrenhaus führt.
»Warte, Saida!«
Arvi hat sich von der Übelkeit so weit erholt, dass er fähig ist, auf den Baum zu klettern, wo Saidas Kleider hängen. Mit zitternden Fingern gelingt es ihm, das Bündel zu lösen und vom Baum fallen zu lassen.
»Saida. Warte!«
Ohne sich umzudrehen geht sie weiter. Anders starrt nun bereits mit offener Panik auf den sich entfernenden Rücken. Er befiehlt Arvi, das Mädchen aufzuhalten. Hat sie vor, ohne Kleider davonzugehen?
»Ist die plemplem? Völlig geisteskrank?«
Sein Schrei entwischt ihm panisch ins Falsett.
»Halt sie endlich auf, verflucht! He, Mädchen, nimm deine Hose mit!«
Anders sieht bereits vor seinem inneren Auge, wie das Mädchen in seiner empörenden Nacktheit im Englischen Park vor die verdutzten Augen der sich an Kamillentee und Marmormuffins labenden Herrschaften und deren Gäste tritt. Anders wendet sich ab und rennt los. Er verschwindet im Schutz des Waldes.
Sakari, 31
Tampere – Vartsala, August 1915
Eigentlich hätte der Zwischenfall am Ufer nach dem Teppichwaschen bloß eine Sommerepisode bleiben müssen, woran die Beteiligten sich bisweilen leicht geniert erinnern.
So etwas kommt eben vor, zumal wenn man jung ist und die Körper so viele Geheimnisse und Überraschungen bergen. Wie könnte man allen Demütigungen an dieser Front vollkommen aus dem Weg gehen, wenn man leben will? Man muss sie einfach still ertragen, durchatmen und weitergehen.
Oder abends der Schwester etwas davon ins Ohr flüstern und gemeinsam mit ihr die Scham hinwegkichern, so wie Saida es tut.
Anders Holm jedoch hat so eine Schwester nicht und auch keinen Bruder. Er erträgt es nicht, vor dem Dorftrampel und dem hochmütigen finnischen Bauernmädchen das Gesicht verloren zu haben. Absolut nicht. Er gleicht der Wespe, die gegen die Fensterscheibe geprallt ist und Stunde um Stunde mit vor Zorn wirrem Kopf dagegen anrennt. Bis ihm schließlich einfällt, wie er Rache üben kann: indem er seine Version der Ereignisse in Umlauf bringt.
Die Dienstmädchen des Herrenhauses, die sich dafür schämen, Saida so feige im Stich gelassen zu haben, erzählen das Gerücht eifrig weiter, welches besagt, die Harjula-Tochter sei aus eigenem Willen am Ufer geblieben, um mit den schwedischen Jungen ihre Spielchen zu treiben, was sie dann ja auch aus vollem Herzen getan habe.
Es ist klar, dass sich solche Reden nicht auf das Herrenhaus beschränken, sondern schnell auch den Leuten in Vartsala zu Ohren kommen. Und so müssen Emma und Herman Harjula zu ihrer großen Bestürzung hören, dass ihre älteste Tochter sich auf fatale Weise entehrt hat. Herman Harjula bringt diese Mitteilung fast um den Verstand. Nicht von ungefähr hat er sich jahrelang vor der Kraft des Bluterbes gefürchtet, das seine Kinder von der Verwandtschaft mütterlicherseits her belastet. Und trotz aller beflissener Erziehungsbemühungen hat er mit dessen Ausbruch gerechnet. Hätte er von Anfang an gewusst, dass Gärtner Malmberg eine Tochter hat, die in Helsinki hurt, hätte er niemals um Emmas Hand angehalten.
Ein ums andere Mal fordert Herman nun in seinen Gebeten eine Antwort auf die Frage, warum der Herr ihn nicht gewarnt, sondern ihm im Gegenteil das Herrenhaus Joensuu und die groß gewachsenen Töchter des Gärtners gezeigt hat, in deren Stammbaum eine so unbändige Brunst nistet. Wie konnte der gütige Gott im Himmel, dem er stets so gehorsam gewesen war, es zulassen, dass sich derartiges Blut mit dem Blut der Harjulas vermischte?
Emma, deren Haare innerhalb einer Nacht ergrauen, ist nicht bereit zu glauben, Saida hätte freiwillig etwas so Schreckliches getan, wie die Gerüchte es behaupten. Ihre schmerzliche Schlussfolgerung lautet, dass ihr teures, auserwähltes Sonntagskind mit Gewalt geschändet worden sein muss.
Beide Varianten sind in gleicher Weise unerträglich, zu schwer, um das Mädchen, das darüber kein
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