Eine eigene Frau
Wort verloren hat, selbst danach zu fragen. Saidas Fähigkeit, ihre Gefühle vollständig zu verbergen, weckt sogar in ihrem Vater eine gewisse, von Wut und Angst durchsetzte Achtung. Und so schweigen die niedergeschlagenen Eltern und warten voller Grauen ab, ob das, was geschehen ist, Folgen gezeitigt hat.
Per Brief gelangt die Geschichte auch nach Tampere. Eine Woche lang versucht Sakari zu deuten, was seine Mutter meint mit ihrer Anspielung auf ein unschönes Gerücht, welches über Saida Harjula in Umlauf sei und in einer bestimmten Weise mit den männlichen Besuchern des Herrenhauses sowie einem bestimmten Teppichwaschtag zu tun habe. Die Unruhe hindert ihn am Schlaf und bringt ihn schließlich so weit, dass er im Steinbruch kündigt und in sein Heimatdorf zurückkehrt.
Einst fuhr Sakari nach Tampere, weil er dort gebraucht wurde. Jetzt sitzt er wieder im Zug, auf dem Weg von Tampere nach Hause. Soll Joel doch tun und lassen, was er will. Ihm kann Sakari eindeutig nicht mehr helfen. Mit zunehmender Gesundheit ist Joels Unverbesserlichkeit immer deutlicher geworden. Tatsächlich hat er beschlossen, anstelle des übergewichtig gewordenen Direktors Aarno seine 59 Kilo in die enge Kanzel des Flugzeugs zu zwängen.
Irrsinnig, findet Sakari, aber von ihm nicht zu verhindern.
Joel muss schlicht und einfach in die Luft aufsteigen, um jeden Preis, und er will nicht wissen, wie er wieder herunterkommt.
Der Dritte-Klasse-Waggon gerät ins Schwanken, der Pappkoffer schaukelt im Gepäcknetz hin und her. Sakari versucht an nichts zu denken, doch es gelingt ihm nicht.
Nächste Station Lempäälä.
Dann Viiala.
Umsteigen in Toijala.
Bahnstation Urjala.
Es nieselt, und der seitliche Wind weht den grauen Qualm aus der Lokomotive über die ebenen Felder, die von den Bauern mit Zweiergespannen gepflügt werden. Ab und zu fliegt ein Funkenschwarm neben dem Waggon hoch, und der Qualm der Birkenscheite, die in den Heizkessel geworfen werden, dringt durch irgendwelche Ritzen ins Wageninnere.
Sakari geht aufs Klosett, um noch einmal den Brief von seiner Mutter zu lesen. Die ausweichenden Sätze sind inzwischen nicht geradliniger geworden, doch ebenso wenig ist die darin versteckte schmerzliche Neuigkeit verschwunden. Das Klosett riecht nach Urin, und durch das Loch sieht man die Bahnschwellen hinweghuschen. Die eiserne Schiene kreischt. Das Fenster ist bemalt worden, damit man nicht hindurchsehen kann. Nur am oberen Rand hat man einen Streifen freigelassen, in dem sich die Welt von rechts nach links bewegt. Die Landschaft, der Wald und der blasse Himmel, der sich darüber wölbt, kommen Sakari tückisch und feindlich vor.
Hat diese Rückreise auch nur einen Funken Sinn? Ein Mann mit Familie sollte in solchen Zeiten keine einigermaßen sichere Arbeit aufgeben und in ein Dorf zurückkehren, über dessen Sägewerk das Gerücht geht, es werde womöglich sehr bald schon unter den Hammer kommen. Vielleicht hat er in seiner quälenden Sehnsucht die unbestimmten Sätze seiner Mutter falsch verstanden? Vielleicht ist er grundlos unruhig geworden. Dem Mädchen fehlt gar nichts. Und wenn doch, was geht es Sakari an? Am besten, er wirft den Brief durchs Loch auf die Gleise, wo die Räder ihn zerfetzen, und kehrt mit dem nächsten Zug nach Tampere zurück.
Als der Zug in Loimaa steht, geht Sakari in der Bahnhofscafeteria eine Tasse bitteren Kaffee trinken. Die Lokomotive bekommt inzwischen Wasser, und wenig später geht es stampfend weiter durch die ebenen Felder von Mellilä. Sakari versucht sich Saida aus dem Kopf zu schlagen und sich stattdessen Zuversicht in Sachen Broterwerb einzuimpfen: Ein Vater sollte bei seinen Kindern sein. Und etwas wird sich schon ergeben. Sofern man nicht wählerisch ist. Man muss nehmen, was kommt, sei es auf einem Hof oder in der Gemeinde.
Sein Blick folgt den gerade erst gepflügten, jetzt schon regennassen, lehmigen Ackerfurchen. Hässlich und traurig. Jemand zieht mit dem Spaten einen kilometerlangen Graben. Wird das auch sein Schicksal sein? Allein im Graben die Schaufel schwingen für den Hungerlohn von einem Bauern?
Der Zug endet in Turku, von wo aus Sakari mit einem anderen Zug nach Salo weiterfährt. Dann muss er noch mit dem Pappkoffer unterm Arm zu Fuß die schlammige Straße entlangstapfen, bis er vor seiner Haustür steht. Dort kommt ein Mädchen mit Zöpfen herausgewirbelt und jauchzt vor Freude. Sobald er Teklas weichen Kinderkörper spürt und ihren Geruch einatmet, bricht Sakari in
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