Eine eigene Frau
Mutter immer so altmodisch sein?«
»Das frage ich mich auch.«
Olgas Ton war bissig.
»Jetzt reicht es aber, alle beide!«
Auf Emmas Wangen tauchten rote Flecken auf. Das war ein Warnsignal, das sich in letzter Zeit beängstigend oft gezeigt hatte. Ihre Nerven schienen immer mehr strapaziert zu werden. Wohl weil der Vater dauernd am Schnaps nippte. Genau, der strenge Abstinenzler Herman Harjula hatte tatsächlich angefangen zu trinken, aber Saida fand, die Mutter brauche deswegen nicht unnötig außer sich zu sein. Selten uferte das Trinken bei Herman so aus wie bei den anderen Männern. Meistens zog er sich zurück und hackte Holz oder klärte die Netze, flüchtete vor dem anklagenden Blick der Frau.
Saida fand den Vater mit einem kleinen Schwips eigentlich viel angenehmer als in seiner üblichen finsteren Strenge. Hin und wieder konnte er freilich schon mal laut und spöttisch werden, aber er richtete seine Pfeile nicht wie früher gegen Frau oder Töchter. Jetzt waren der Zustand der Welt und vor allem Gott selbst, der sein Amt so miserabel ausübte, an der Reihe.
Ja, Herman Harjula war zu dem Ergebnis gekommen, die Welt sei wegen der Verantwortungslosigkeit des Herrn verrückt geworden. Nur deshalb, weil Gott aus irgendeinem unbegreiflichen Grund aufgehört hatte, seine Aufgabe als oberster Wächter zu erfüllen, dürften sich die Christen Europas jetzt offenbar bis zum Ende der Welt ungestraft gegenseitig schänden und abschlachten wie die wilden Heiden. Vielleicht sei der Himmlische Vater alt geworden, so wie Herman selbst? Altersschwachsinn würde einiges erklären.
Solche Spottreden trieben Emma Harjula die Tränen in die Augen, aber was konnte sie gegen den Fluch des Alkohols schon ausrichten? Auf das Konto des Schnapses ging auch die Tatsache, dass der Vater so gut wie keine Einwände gegen den Bund zwischen Saida und Sakari erhoben hatte. Mit schwärmerischem Trotz hatte Saida ihrem zukünftigen Mann schon verkündet, sie sei bereit, mit ihm bis ans Ende der Welt zu fliehen, falls der Vater ihnen nicht seinen Segen gebe. Sie hatte alles geplant, bis hin zu Reisekleidern und Tasche. Sakari hörte sich die Einzelheiten der Flucht etwas verlegen an, ächzte aber schließlich und meinte, Herman werde ihnen schon die Heiratserlaubnis geben. So wie es zu Saidas großem Erstaunen auch sofort der Fall war.
»Halleluja!«, rief Herman mit nach oben gestreckten Armen aus, nachdem Sakari sein Anliegen vorgetragen hatte. »Unerforschlich sind die Wege des Herrn. Wahrlich, Halleluja!«
Emma brach in Tränen aus.
»Du solltest dich zusammenreißen. Musst du sogar in so einem Moment noch lästern?«
»Ich lästere nicht. Im Gegenteil, ich danke dem Herrn. Und seit wann hat die Frau Mama etwas gegen das Halleluja? Wenn ich seinerzeit alle Hallelujas und alles andere dazugehörige Gebrüll für mich behalten hätte, hätten wir gar kein Mädchen, das gefreit werden kann.«
Da Saida sich nun im großen Spiegel in der Eingangshalle des Genossenschaftshauses betrachtet, wie sie neben Sakari in seinem dunklen Anzug steht, ist sie zufrieden damit, hartnäckig an der hellen Farbe für das Hochzeitskleid festgehalten zu haben. Sie sehen beide sehr elegant aus, sehr modern. Auch Saidas Schuhe sind weiß.
Sie hat sie in einem Schuhgeschäft in Turku im Regal stehen sehen und war sofort begeistert, zögerte aber, sie auch nur anzufassen, denn sie waren ziemlich teuer, und Sakari hatte darauf bestanden, sie zu bezahlen. Der Verkäufer, ein junger Mann mit Pickeln im Gesicht, brachte Saida dazu, die Schuhe anzuprobieren, indem er ein ums andere Mal sagte, deren Elfenbeinnuance harmoniere mit Saidas schönem Teint. Er erzählte, die Schuhe seien das Allerneueste, der letzte Schrei, die Erfüllung der Träume einer jeden modernen Frau, eine elegante Kombination aus Leder und Kunstleder.
Während sich Saida noch immer zierte, brummte Sakari, das Paar werde eingepackt. Saida war selig, aber die Freude dauerte nicht lange. Während der gesamten Eisenbahnfahrt von Turku nach Halikko saß der Mann nahezu totenstill neben ihr. Anfangs schenkte Saida dem Benehmen keine sonderliche Beachtung, denn er war schon immer einer von der stillen Sorte gewesen.
Sie lehnte sich an seine warme, nach Rauch riechende Schulter, schloss die Augen, hörte dem gleichmäßig schlagenden Takt des Zuges zu und schwelgte innerlich in den Freiheiten, die sich Sakari in der Ecke des fast leeren Waggons gern nehmen dürfte, wenn es nach ihr ginge. Sie
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