Eine Evatochter (German Edition)
führt, die Proben, zu denen sie erscheinen muß, will sie keine Strafe bezahlen, die Vorlesungen von Stücken, das dauernde Einstudieren neuer Rollen in einer Zeit, wo man in Paris alljährlich zwei- bis dreihundert Stücke spielt. Während jeder Vorstellung wechselt Florine zwei, dreimal das Kostüm und kehrt oft erschöpft und halbtot in ihre Garderobe zurück. Sie muß sich dann mit großem Aufgebot von kosmetischen Mitteln abschminken und abpudern, wenn sie eine Rolle aus dem 18. Jahrhundert gespielt hat. Kaum hat sie Zeit zum Essen. Wenn eine Schauspielerin spielt, darf sie sich weder schnüren, noch essen, noch reden. Florine hat keine Zeit mehr zum Soupieren. Wenn sie aus solchen Vorstellungen heimkehrt, die heutzutage bis in den nächsten Tag hinein dauern, muß sie dann nicht ihre Nachttoilette machen und Anweisungen geben? Liegt sie dann um 1 oder 2 Uhr zu Bett, so muß sie ziemlich früh wieder heraus, um ihre Rollen zu lernen, die Kostüme anzugeben, sie zu erklären und zu probieren, muß dann frühstücken, Liebesbriefe lesen und beantworten, mit den Leitern der Claque arbeiten, damit ihr Auftreten und Abtreten recht zur Geltung kommt, die Triumphe des vergangenen Monats damit bezahlen, daß sie die des laufenden Monats im voraus kauft. Zur Zeit des heiligen Genest, eines heilig gesprochenen Schauspielers, der seine frommen Pflichten erfüllte und ein Büßerhemd trug, muß das Theater wohl keine so wilde Tatkraft erheischt haben. Oft muß Florine sich krank melden, wenn sie das spießbürgerliche Vergnügen genießen will, Blumen auf dem Lande zu pflücken.
Aber diese rein mechanischen Beschäftigungen sind nichts im Vergleich zu den Intrigen, die zu spinnen sind, den Kümmernissen der verletzten Eitelkeit, den Bevorzugungen durch die Autoren, den weggenommenen oder wegzunehmenden Rollen, den Ansprüchen der Schauspieler, den Bosheiten einer Nebenbuhlerin, den Schikanen der Direktoren und Journalisten, die das Tagewerk verdoppeln. Soweit handelt es sich immer noch nicht um Kunst, um die Verkörperung von Leidenschaften, die Einzelheiten der Mimik, die Anforderungen der Bühne, auf der tausend Operngläser die Flecken in jeder Sonne entdecken, lauter Dinge, die das Leben und Denken der Talma, Lekain, Baron, Contat, der Clairon und Champsmeslé ausfüllten. In der höllischen Kulissen weit ist die Eigenliebe geschlechtlos: der Künstler oder die Künstlerin, die Erfolge erringen, haben Männer und Frauen gegen sich. Was die wirtschaftliche Lage betrifft, so deckten Florines Engagements, so beträchtlich sie sein mochten, nicht die Ausgaben für die Theatergarderobe, die, von den Kostümen ganz abgesehen, eine Unmenge langer Handschuhe und Schuhe erfordert und weder die Abendtoilette noch die Stadtkleidung ausschließt. Ein Drittel dieses Daseins vergeht mit Betteln, das zweite damit, sich zu behaupten, das dritte, sich zu verteidigen: alles ist Arbeit. Das Glück wird so leidenschaftlich genossen, weil es gleichsam geraubt, selten, lange ersehnt ist und sich zufällig inmitten abscheulicher unumgänglicher Vergnügungen und des Lächelns für die Zuschauer einfindet.
Für Florine war Raouls Macht wie ein schützendes Zepter. Er ersparte ihr viel Sorge und Verdruß, wie ehedem die vornehmen Herren ihren Mätressen, wie heutzutage manche Greise, die zu den Journalisten laufen und sie beschwören, wenn ein Wort in einem Winkelblättchen ihr Idol erschreckt hat. Sie hing an ihm mehr als an einem Liebhaber, vielmehr wie an einer Stütze. Sie sorgte für ihn wie für einen Vater und betrog ihn wie einen Gatten, aber sie hätte ihm alles geopfert. Raoul vermochte alles für ihre Künstlereitelkeit, für die Ungestörtheit ihrer Eigenliebe, für ihre Bühnenzukunft. Ohne Einmischung eines großen Autors gibt es ja keine große Schauspielerin. Die Champsmeslé verdankt man Racine, Mademoiselle Mars einem Monvel und Andrieux. Florine hingegen vermochte nichts für Raoul zu tun, und doch wäre sie ihm gern nützlich oder nötig gewesen. Sie rechnete auf die Lockungen der Gewohnheit, war stets bereit, ihre Salons zu öffnen, den Luxus ihrer Tafel für seine Pläne, seine Freunde zu entfalten. Kurz, sie wollte für ihn das sein, was die Pompadour für Ludwig XV. war. Die Schauspielerinnen beneideten Florine um ihre Stellung, wie einige Journalisten Raoul um die seine. Nun werden alle, die die Neigung des Menschengeistes zum Gegensatz und Widerspruch kennen, wohl begreifen, daß Raoul nach zehn Jahren dieses
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